Am Ausgang
Wer die Kartoffeln aus dem Feuer holt,
Märkisches Sprichwort
der isst sie selten selbst.
Von allen Zwängen der innerstädtischen Enge befreit, blubberte der große Motor des Wagens freudig und trug die Gesellschaft der nördlichen Grenze der märkischen Kleinstadt entgegen. Unfreiwillig zusammengefunden, hatten sie sich inzwischen miteinander arrangiert. In die Kabine des Oldtimers war so etwas wie ein professionelles Miteinander eingezogen.
Der Dacapo hebelte aufgeräumt am Radio und schaltete von einem lokalen Radiosender zum nächsten, ohne an den übermittelten Inhalten interessiert zu sein. In seinen Gedanken war er bereits mit der Ankunft in der großen, bunten Stadt beschäftigt. Von dem Radio erhoffte er sich, dass es kurzzeitig die zerstörte Kassette ersetzte und AC/DC spielte. Das altertümliche Gerät produzierte aus unverständlichen Ansagen und einem fortwährenden, sanften Rauschen einen Geräuschteppich, der sich auf alles im Inneren der Kabine legte. In diesen wob der große Motor sein sonores Brummen wie einen Silberfaden, der nur einen geringen Anteil am Stoff ausmacht, aber immer präsent ist. Selten wurde die einschläfernde, akustische Kulisse von Musikstücken unterbrochen, die der Dacapo durch ein Weiterschalten sofort beendete. Die Songauswahl der Lokalsender traf seinen Geschmack ganz und gar nicht - nur Schlager ... einfach unerträglich.
Auf der Rückbank versuchte Tommy zu schlafen. Dieser Abend, der seine Flucht beendete, hatte ihm die letzten Reserven seiner seelischen Stabilität abverlangt und diese erfolglos verbraucht. Wollte er nicht in einen endlosen, hysterischen Heulkrampf ausbrechen, musste er diesen Speicher seiner Psyche wieder aufzufüllen. Die Ketten, die ihn an das Innere des Wagendaches fixierten, ließen gerade soviel Bewegungsfreiheit, dass er sich an die Seitenwand und das kleine Fenster legen konnte. Die Lehne der Rückbank war für ihn unerreichbar. Seit der Überquerung der ersten Kreuzung bei roten Ampeln hatte er die Augen geschlossen gehalten. Er befand, dass er nicht noch mehr visuelle Reize ertragen konnte. Inzwischen dämmerte er immer wieder in einen Sekundenschlaf hinüber, der ihm die gleiche Erholung brachte, wie eine Ohnmacht. Für kurze Zeitintervalle schaltete er sich einfach ab und ließ sein Hirn ruhen.
Im Gegensatz zu Tommy war Miezi gar nicht müde. Der kleine Pekinese saß auf der anderen Seite der Rückbank und knuffte den Verbrecher ununterbrochen in die Seite. Bewegte sich dieser um auszuweichen, folgte ein leises, drohendes Knurren. Mit Verbrechern hatte er kein Einsehen, als Polizeitier vertrat er ganz klar das Gesetz und die Meinung: ’Verbrechen zahlen sich nicht aus’. Miezi lauschte auf das leise Klirren der stählernen Glieder der Ketten. Als Hund war es dem kleinen Tier vergönnt, die einzelnen Geräusche im Inneren des fahrenden Wagens nicht als akustischen Brei wahrzunehmen. Wie einzeln stehende Bäume auf einer großen, grünen Wiese waren für ihn die unterschiedlichen Tonquellen unterscheidbar und bildeten eine schöne, lockere Landschaft. Wer benötigt schon Licht und Sicht, wenn er hören konnte. Fehlte in dieser Umgebung das Klirren und Klingeln der Ketten, war das akustische Gelände nicht perfekt und konnte es nur eine Ursache dafür geben: Der Gefangene bewegte sich nicht. Das war nicht gut. Seine Erfahrung sagte ihm, dass festgesetzte Kriminelle immer in Bewegung gehalten werden mussten. Dann waren sie beschäftigt und hatten keine Zeit, um auf sehr dumme Ideen zu kommen. So analysierte Miezi alle Geräusche im Inneren der Kabine und war kein Klirren darunter, sprach das Polizeitier seinen angeketteten Sitznachbarn an. Der war genauso dumm wie alle anderen Menschen auch, mit denen man sich nicht unterhalten konnte, da sie seine Sprache nicht lernen wollten.
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Während der 1970-er Oldtimer auf den großen Kreisverkehr am Ortsausgang zusteuerte, standen zwei Gestalten nur wenige Meter hinter dem Ortsschild mitten auf der Straße. Sie trugen gemeinsam ein hölzernes Zaunfeld, auf dem Teile des halb verrotteten Stammes einer Birke lagen. So weit vom Marktplatz Storkows entfernt gab es keine Straßenbeleuchtung mehr und natürlich waren die beiden Holzsammler dunkel gekleidet. Das war unpassend für den nächtlichen Aufenthalt auf unbeleuchteten Straßen, für Wassili und Jewgeni jedoch normal. Sie trugen alte, schwarze Armee-Overalls, die an vielen Stellen Flecken von Öl und Schmierfett zierten. Diese Bekleidung war praktisch und unauffällig - zumindest in ihrer Heimat, dem fernen Transnistrien.
”Du Wassili, meinst du, die Latten des Zaunes brennen? Riech’ doch einmal daran ... da ist eine klebrige, stinkende Farbe drauf.”
Der Angesprochene hätte jetzt die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf auf die rechte Schulter gekippt und seinen Freund Jewgeni durchdringend und fragend angesehen, wenn es nicht stockdunkel gewesen wäre und sie nicht gemeinsam das Holz tragen würden. So kann er nur entrüstet antworten.
”Ach Jewgeni, natürlich wird der Zaun brennen! Die Farbe riecht wegen des Lösungsmittels darin so seltsam und das ... brennt extra gut”, nach einer kurzen Unterbrechung fügt er hinzu: ”und riecht dann noch intensiver.”
”Ja, schade, ist kein Kartoffelfeuer. Du hattest mir ein solches versprochen.”
Wassili ist etwas ungehalten, wegen des Einwurfes seines Freundes: ”Siehst du hier irgendwo trockenes Kartoffelkraut?”
”Nein?”
”Nein!”
”Schade”, wiederholt Jewgeni leise.
Wassili bleibt nur, mit den Augen zu rollen. Die Dunkelheit verbirgt dies vor Jewgeni und erspart ihm damit einen depressiven Abend.
Die wandernden Wissenschaftler aus Transnistrien haben ihren Kleinbus auf einer Freifläche abgestellt. Der ausklingende Tag war erfolgreich und auch nicht. Vielleicht könnte man ihn als ’übererfolgreich’ bezeichnen. Hatte doch die Löffelbombe nicht nur die geforderte Aufmerksamkeit erregt, sondern auch alle Nachrichten vernichtet, die ihr Auftraggeber an seinen Schuldner übermitteln wollte. Nun waren sie gezwungen, die weitere Schritte ihres Vorgehens zu überdenken, schließlich war die Mission noch nicht erfolgreich abgeschlossen. Die Nachrichten mussten unbedingt übermittelt werden. Für die Planung weitreichender Aktionen gab es kein besseres Ambiente als ein Lagerfeuer und gegrillten Fisch. Im Niemandsland vor dem Ortseingangsschild errichteten sie ein großes Zelt und entzündeten zwischen Zelt und Bus ein Feuer. Auf einem Grillrost, der schräg gegen das allmählich verlöschende Feuer lehnte, hingen zwei Fische in der Hitze und dem Rauch. Die Flammen züngelten nur noch knapp über dem Boden und erleuchteten das Zelt und den Kleinbus kaum. Den beiden Campern war das Brennmaterial ausgegangen und so machten sie sich auf die Suche nach neuem, trockenen Holz. Gleich zwischen den Häusern am Ortsrand wurden sie fündig. Eine alte, umgestürzte Birke lag neben dem Feldweg. Schnell waren die restlichen, morschen Äste vom Stamm gebrochen. Diesem allein trauten Wassili und Jewgeni nicht zu, ihr Feuer lang genug am Leben zu erhalten. Eine weitere Quelle für ihr Feuerholz war schnell gefunden. Das nächste Haus stand hinter einem Lattenzaun. Wassili nahm einen Elektroschrauber von seinem Werkzeuggürtel und begann eines der Zaunfelder zu demontieren. Wenn sie dieses ihrem Holzvorrat hinzufügten, würde er für den heutigen Abend eine ausreichende Größe besitzen. Schnell und einstimmig hatten sie beschlossen, dass hier draußen niemand einen Zaun benötigt. Der belebte Teil von Storkow war einige hundert Meter entfernt. In diesen Teil des Ortes verirrten sich nur die Anwohner selbst - und Wissenschaftler auf Wanderschaft. So ernteten sie einen Teil der sinnlosen Grenzbefestigung, legten den Birkenstamm auf das Zaunfeld und trugen beides zu ihrem Lager auf der anderen Seite der Straße.
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Als das überblaue Einsatzfahrzeug sich dem provisorischen Camp näherte, standen Wassili und Jewgeni immer noch mitten auf der Straße. Vertieft in ihre Unterhaltung über Kartoffelfeuer, blockierten sie mit ihrem Holzvorrat beide Fahrbahnen. Die dunklen Gestalten bemerkte der Dacapo erst einige Sekunden, nachdem das Licht der schwachen Frontlichter des Oldtimers sie erfasst hatte. Instinktiv trat er mit aller Kraft auf Kupplung und Bremse. Die Räder blockierten sofort, das Fahrzeug brach aus, drehte sich und rutsche quer über die Fahrbahn. Unter lautem Quietschen schleuderte der Oldtimer auf die beiden Holzträger zu. Direkt vor ihnen kam der alte Wagen zum Stehen. Sein hohes Gewicht ließ ihn stark in der Federung schaukeln. Dieser war vor einigen Augenblicken alles abverlangt worden und sie musste sich nun erst beruhigen. Die Köpfe des Dacapo und von Tommy pendelten synchron dazu ebenfalls aus. Miezi dagegen war gegen die Rückenlehne des Beifahrersitzes geschleudert worden und verhielt sich zum ersten Mal am heutigen Abend ruhig. Zu groß war der Schreck, der das Tier während der abrupten Richtungsänderung und Notbremsung erfasst hatte. Als das Fahrzeug zur Ruhe gekommen war, hieb der Dacapo auf den Schalter des Blaulichtes.
”Grrr, watt für’n Unfug! Sind hia suizidale Trolle untawechs?”, kommentierte er diese Aktion, immer noch erschrocken.
Sofort fluteten blaue Lichtblitze den Abend. Ihre Photonenzungen leckten über die Bäume am Rand der Straße und die beiden Gestalten neben dem Wagen. Sie wirkten erstarrt, nahezu eingefroren. Offensichtlich versetzte sie nicht nur der Schrecken der plötzlichen Begegnung in diesen Zustand. Mit geweiteten Augen starrte der Dacapo aus dem Seitenfenster auf den Teil des Hindernisses, der direkt davor stand und nun rhythmisch in verschiedenen Blautönen beleuchtet wurde. Die Gestalt beugte sich nach unten und starrte mit ebenfalls geweiteten Augen zurück. Über mehrere Sekunden war nur das sanfte Blubbern des leer laufenden V8-Motors zu hören. Niemand sagte etwas oder rührte sich. Sehr langsam kamen die Gedanken zurück in den Kopf des Dacapo. Neue Sinneswahrnehmungen schalteten sich hinzu. Brannte da nicht direkt vor ihnen auf dem Feld ein Feuer und war daneben nicht ein Zelt aufgestellt? Das konnten wirklich nur suizidale Trolle sein, schlussfolgerte der Dacapo. Offensichtlich waren die beiden Gestalten dabei, Holz für ihr Feuer zu sammeln. Der Polizeisinn begann sich in ihm zu regen: ’Dürfen die das überhaupt?’ Zum letzten Mal hatte er als Kind gezeltet. Das war lange her und er konnte sich nur noch daran erinnern, dass ununterbrochen regnete und das Berühren der Zeltwand strengstens verboten war. Wo und unter welchen Bedingungen Zelten heute möglich und gestattet war, wusste er nicht, hatte es ihn bisher doch nie interessiert. In Berlin wurden Zelte zumeist über Gruben des Tiefbaus errichtet. In diesen wollte niemand wohnen und genehmigt wurden die Stoffbauwerke vom Bauamt. Als logische Schlussfolgerung konnte er also annehmen, dass Zelte nicht in den Zuständigkeitsbereich eines Verbrecherjägers des Bundeskriminalamtes fallen. Das beruhigte ihn, hatte er doch eine Aufgabe zu erfüllen, von deren Erledigung er ungern abgelenkt werden wollte. Der Gefangene musste in der großen, bunten Stadt abgeliefert werden. Das hatte eindeutig Priorität und fiel ganz klar in seine Zuständigkeit als Beamter des BKA.
”Für Hirsche fehlt denen det Jewei. Wie Trotteltrolle seh’n se trotzdem aus.”
Mit diesem Scherz schloss der Dacapo den Gedankengang ab. Kurz entschlossen schaltete er die Blaulichter wieder aus. Sofort setzten sich die beiden Gestalten in Bewegung und räumten die Straße. Das war das eindeutige Signal für ihn, die Fahrt fortzusetzen. Die Straße war frei und die große, bunte Stadt wartete auf ihn und seinen Fang.
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Wieder an ihrem Feuer angekommen, sahen sich Jewgeni und Wassili fragend an. Was war ihnen vor wenigen Minuten geschehen? Der seltsame Polizist hatte sie einfach ignoriert. In ihrer Heimat wäre diese Begegnung der Startpunkt einer persönlichen Katastrophe gewesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten sie sich am kommenden Tag in einem Arbeitslager wiedergefunden.
„War das die Faschingspolizei?”
”Was?”
”In Köln soll es so etwas geben, habe ich gehört. Was machen die hier und dann noch vor der Karnevalssaison?“
Wassili konnte sich keinen Reim auf den Ausgang ihres jüngsten Abenteuers machen. Jewgeni freut sich ehrlich über diese Ende der Episode. Der Abend und wohl auch der kommende Tag waren gerettet. Mit behördlichen Widerstand gegen ihre Aktivitäten war nicht mehr zu rechnen.
„Du, hier sind wir wirklich frei. Niemand stört uns, egal was wir tun.“
„Ja, du hast recht. Wunderschön ist das hier, keinem Menschen muss man Rechenschaft ablegen und es gibt einfach unendliche Betätigungsmöglichkeiten und alle notwendigen Ressourcen obendrein“, schwärmte Wassili.
”Ja und Leute, die einen ’Gefallen’ benötigen und bezahlen können in Unmengen.”
”Einfach himmlisch...”
Beide fühlten sich in ihrem Entschluss bestärkt, in diesem Land zu bleiben und hier ihre Dienste anzubieten. Offensichtlich hatte sich ihnen das Märchenland eröffnet.
Ihr Feuer loderte auf. Knisternd fraßen sich die Flammen in die ersten Latten des Holzzaunes und angenehme Wärme breitete sich in der Abendluft aus. Der von den Feldern herüberziehende Dunst kleidete das Lager in einen weißen Mantel und zerstreute das Licht des Feuers sanft. Dabei schien es sich mit dem Geruch des gegrillten Fisches zu mischen: Im Märchenland war alles möglich, wie auch im Dahmeland, dem Auenland der Mark Brandenburg.