Attilas Traum

Wahn oder Sinn oder Wahnsinn -
manchmal nur schwer zu unterscheiden.
Immer enthält Wahn auch Sinn und umgekehrt.

Jaroslaw Tarossek - Höhlenforscher

Bunte Wolken aus Luftballons steigen in den abendlichen Himmel, hinauf zu den glitzernden Sternen. Ihren Weg in die endlose Freiheit des Raumes nehmen sie auf breiten, hellen Lichtbändern. Riesige Scheinwerfer feuern unablässig Garben aus Photonen in die Höhe und lassen die vielen, bunten Latexblasen am Himmel glühen. Auf jeden der Ballons ist ein Photo von ihm gedruckt. Das ist Attilas Aufstieg in den Himmel, sein Einzug in den Olymp der Politik. Er ist begeistert und in Höchststimmung. Die Wahl ist beendet, seine Partei hat gewonnen: Die absolute Mehrheit mit über 70 Prozent der Wählerstimmen ist ein unvorstellbares Ergebnis. Niemand hat damit gerechnet und es hat das ganze Land regelrecht "umgehauen":

  • 18:10 Uhr - die Hochrechnung bleibt aus
  • 18:20 Uhr - keine Hochrechnung: die ersten Pressevertreter sprechen von "Technikversagen"
  • 18:30 Uhr - keine Hochrechnung: die Wahlforschungsinstitute verweigern jegliche Aussage
  • 18:45 Uhr - der Pressesprecher der Wahlkommission tritt vor die Presse, verkündet die aktuelle Hochrechnung und betont mehrfach, dass Irrtümer und Fehler ausgeschlossen sind
  • 18:48 Uhr - zwei von Attilas Gegenkandidaten fallen vor laufenden Kameras in Ohnmacht, ein dritter kreischt schrill in einem hysterischen Anfall, der nur mit zwei Literflaschen kalten Wassers beendet werden kann - natürlich auch vor laufenden Kameras
  • 19:00 Uhr - Attila tritt vor die Pressevertreter und verkündet, dass er die Wahl annimmt - um 20 Uhr soll die Siegesfeier beginnen
  • Und alle wollen ihn als Ministerpräsidenten, hier in Brandenburg!

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    Die Feier ist gigantisch, unbeschreiblich. Der Andrang an Fans und Wählern ist so groß, dass auf einem Platz gefeiert werden muss. Ein passender Saal war nicht auffindbar. Selbst die Auswahl des Platzes fiel seinem Marketing schwer. Aber was ist passender als die 'Freundschaftsinsel' im Zentrum der Stadt. Dort ist Platz für viele Gäste, der Hauptbahnhof ist in der Nähe und es gibt Platz für eine provisorische Bühne. Die Besuchermassen strömen über die Brücken auf die Insel. Blumenrabatten und Stauden sind die ersten Opfer der neuen Regierung: sie werden auf Grashalmniveau gestutzt. Pünktlich um 20 Uhr schießen die ersten Lichtgarben aus den eilig herbeigebrachten Scheinwerfern in den Himmel. Attila betritt die kleine Bühne und der Himmel füllt sich mit bunten, leuchtenden Ballons. Die Scheinwerfer erzeugen auf deren Neonfarbe ein stummes Feuerwerk am Himmel. Ein Beifallssturm entbrennt in der Masse und der Schall der klatschenden Hände brandet massiv und andauernd an die Plakatwand, die hinter der Bühne aufgespannt ist. Es wird Zeit für die Siegesrede. Attila bringt die Menge durch eine einzige Handbewegung zum Schweigen.

    "Meine Wähler! Wir haben unser großes, epochales Ziel gemeinsam erreicht. Wir haben die Wahl gewonnen!" beginnt er seine Rede. Neue Jubelstürme unterbrechen seinen Auftritt. Wieder leitet er mit einer Handbewegung die Stille ein.

    "Jetzt beginnt sie, die strahlende Zukunft des Landes Brandenburg. In nur fünf Jahren werden wir zum Zentrum der gesamten Welt. Mit einem gewaltigen Sprung bringen wir uns an die Spitze aller Nationen. Technologien aus dem Land Brandenburg werden die revolutionärsten und begehrtesten Innovatoren der Weltwirtschaft. Wir werden unser Bruttosozialprodukt verzehnfachen!"

    Aus dem Augenwinkel nimmt er mit einem Mal eine Veränderung in der Menge rechts vor der Bühne wahr. Ein Mann in einem weißen Hasenkostüm geht durch die Menge. Er schreitet langsam und ungehindert auf die Bühne zu. Die Wählermenge teilt sich vor ihm auseinander und macht ihm Platz. Niemand berührt den großen, weißen Plüschhasen.

    Attila unterbricht verdutzt seine Ansprache und starrt auf den Hasen. Dieser hat inzwischen die Bühne erreicht und betritt diese über Luftstufen. Er tritt einfach in der Luft auf nicht vorhandene Stufen einer virtuellen Treppe. Auf einen Schlag wird ihm klar: das ist ein 'Nordterrorist', gesandt aus dem Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern. Diese Erkenntnis trifft ihn hart und unvermittelt. Er springt vom Mikrofon, das vor ihm steht, nach links und macht unwillkürlich Platz für den Hasen. Auf dem Platz vor der Bühne ist absolute Ruhe eingetreten. Tausende Augenpaare blicken erschrocken auf das Geschehen vor ihnen. Der 'Nordterrorist' greift mit beiden Pfoten in die Taschen seines Hasenkostüms, bringt Bündel großer Mohrrüben hervor und fängt an, diese auf Attila zu werfen. Im hellen Licht der Bühne leuchten die Flugrüben grell rot in Warnfarbe. Attila ist sprachlos und überlässt das Mikrofon ohne Widerstand dem Terrorhasen aus dem Norden. Dieser stellt sich direkt davor und haucht in das Mikrofon.

    "Hrrrrr..."

    Die Menge der Wähler weicht unwillkürlich zurück. Zwischen ihnen und der Bühne entsteht ein breiter Graben. Pures Entsetzen ist auf den Gesichtern zu sehen. Die Hasenmaske verzerrt sich zu einem Grinsen und der 'Nordterrorist' beginnt mit einer kurzen Rede.

    "Na ihr Angsthasen? Ja, ich bringe euch interessante Nachrichten. Eigentlich wollte ich diese verlesen - geht aber auch ohne. Kann ich mich nicht ver-Zetteln. Hrrrrrr..."

    In der ersten Reihe hinter dem Graben der Angst fallen zwei Besucher in Ohnmacht. Im Umfallen reißen sie weitere Menschen hinter sich zu Boden. Wie Dominosteine fallen immer mehr Besucher auf dem Platz um. Nach wenigen Minuten steht nur noch die Hälfte der Wähler. Auf dem Boden zappelt die andere Hälfte und versucht verzweifelt, wieder auf die Beine zu gelangen.

    "O.k. ich mach' es kurz: an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern steht ein großes Heer von Killerkaninchen. Diese werden einfallen und euch überrennen. Nix mit Innovationen - es gibt Invasion."

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    Attila sieht sich nach einem plötzlichen Szenenwechsel auf dem neuen Großflughafen BER zwischen Berlin und Brandenburg stehen. Er befindet sich auf der Wiese zwischen den beiden Startbahnen. Diese sind mit kleinen, weißen Kaninchen bedeckt. Das weiße Fell der Tiere ist deutlich im Kontrast zum hellen, gelben Grün des Grases zu erkennen. Nicht ein einziger Flecken Asphalt ist noch zu erkennen - alles ist weiß, als ob es geschneit hätte. Nur: der Schnee bewegt sich und wabert hin und her. Neben den Startbahn sind Haufen aus hellem Sand aufgetürmt. Ein Teil der Kaninchen gräbt mit großer Geschwindigkeit Gänge unter den Asphaltbändern. Aus den Tunnelöffnungen sprüht der Sand förmlich heraus. Die Hügel wachsen zusehens und wie es zu erwarten ist, bricht die Südbahn an der ersten Stelle ein. Die vorerst grün-weiße Ebene wird wird zur Hügellandschaft. Immer mehr Wellen bilden sich auf der Startbahn. Aus dem Hintergrund ist lautes Poltern zu vernehmen. Attila sieht in die Richtung, aus der die Geräusche zu ihm dringen. Flugzeuge, die am Rand abgestellt sind, kippen zur Seite. Die Kanzeln schlagen polternd auf den Beton und zerbrechen scheppernd. Er läuft auf die verunglückten Maschinen zu und erkennt, dass Kaninchen die Reifen zerbeißen und die Kolosse damit aus dem Gleichgewicht bringen. Das Invasionsheer der Kaninchen aus dem Nachbarland hat es geschafft: kein Flugzeug wird hier vorerst starten und landen.

    Neue Geräusche hinter seinem Rücken zwingen ihn sich umzuwenden. Im Abfertigungsgebäude blinken Alarmlichter und Sirenen orgeln durchdringend zu ihm herüber. Feuerwehrwagen treffen ein. Ihre Rundumleuchten blinken lustig und die Töne ihrer Sirenen mischen sich mit denen aus dem Abfertigungsgebäude. Die Alarmtöne und deren Interferenzen spielen eine apokalyptische Sinfonie. Viele Menschen in Schutzbekleidung stürmen in das Gebäude. Einige schlagen die hohen Fenster ein und klettern über die Scherben in die dahinterliegenden Räume. Das Klirren der Scheiben ergänzt das Konzerterlebnis. Ein Feuerwehrmann läuft auf Ministerpräsident Attila zu. Atemlos erläutert er die Ursache des Desasters. Die Kaninchen haben die geniale Entrauchungsanlage des Abfertigungsgebäudes verstopft. Das Ergebnis ist folgerichtig und vorhersehbar. Der Landrat des Landkreises Dahme-Spreewald schließt den Flughafen erneut. Ohne funktionierende Entrauchungsanlage kein Betrieb.

    Damit hat sich zumindest das Problem mit dem Starttermin für den Regelbetrieb des neuen Flughafens erledigt: der fällt komplett aus. Der Angriff der Killerkaninchen ist vernichtend für die Investruine im Brandenburger Sand.

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    Die Ansicht wechselt abrupt und Attila landet wieder auf der Bühne seiner Siegesfeier nach der Wahl. Der 'Nordterrorist' im Hasenkostüm ist nicht mehr zu sehen. Die Besucher der Veranstaltung halten jedoch immer noch einen Sicherheitsabstand zur Bühne ein. Attila muss sie beruhigen. Er tritt an das Mikrofon, das aus unerfindlichen Gründen Form und Farbe einer Mohrrübe hat.

    "Liebe Landsleute, wir werden die feindliche Armee der Killerkaninchen zurückschlagen und ihnen keine Pfote voll mit Brandenburger Sand lassen. Wir werden einen Grenzwall zu Mecklenburg-Vorpommern errichten. Mit der Hilfe unserer australischen Freunde wird er eine sichere Verteidigungslinie gegen die weißen Horden aus dem Norden werden. Glaubt mir: die Australier haben so ihre Erfahrungen mit Kaninchen."

    Unterdessen sind einige Kaninchen vor der Bühne aufgetaucht. Sie beginnen mit der Unterhöhlung des linken, vorderen Pfostens des provisorischen Bauwerkes. Kurze Zeit später stürzt die Bühne krachend in sich zusammen und Attila fällt in ein großes, tiefes Loch, ... fällt, ... fällt und erwacht. 'Uhch - zum Glück kein Alptraum.' ist sein einziger Gedanke, bevor er wieder einschläft.