Hirnexhauster - die Wahlkampfpsychose

Der Wahlkampf tobt sich seit mehreren Wochen aus. Ein Exzess folgt dem nächsten, die Kandidaten lassen keinen Fettnapf aus und die Skandale wechseln sich ununterbrochen ab. Es ist eine wahre Bonanza für die Medien. So viele Negativmeldungen gibt es selten innerhalb eines kurzen Zeitraumes. Jede schlechte Nachricht ist Treibstoff für die medialen Motoren, die die Verkaufs- und Zugriffszahlen treiben. Das Klima in der großen, bunten Stadt ist überhitzt und der finale Tag der allgemeinen Abkühlung ist noch weit entfernt. Angestachelt von der Berichterstattung, liegen bei allen Kontrahenten die Nerven blank. Das nervöse Zucken einer Seite kann bereits eine Angstpsychose auf den anderen, politischen Seiten auslösen.

Frank ist mit seinem bisherigen Abschneiden bei dem Rennen um die vorderen Plätze ganz zufrieden. Er befindet sich aktuell unter den ersten drei Bewerbern um die Position des regierenden Bürgermeisters der großen Stadt. Natürlich ist das kein Grund, sich auszuruhen. Er führt einen politischen Stellungskrieg. Da heißt es fortwährend: eingraben, Graben verteidigen, vorrücken, eingraben, Graben verteidigen, vorrücken, ... Zur Verteidigung seiner Umfragewerte muss er die Absichten der politischen Gegner auf dem Wahlkampfschlachtfeld im Detail kennen. Dafür hat er seine 'Möglichkeiten': Ein Netzwerk von Beamten und Parteimitgliedern aller Fraktionen, die ihm Gefallen schulden. Da er auf eine lange Karriere als Politiker in diversen Parteien zurückblicken kann, ist ihm der eine und andere Weggefährte in die Abseitsfalle der Mauschelei gegangen. Er hat seine 'Gefallenschuldner' gut katalogisiert und bedenkt sie regelmäßig mit Erinnerungen an ihre Pflichten. Heute beunruhigt ihn eine Nachricht, die er aus BKA-Kreisen erhalten hat. Sein schärfster, politischer Gegner hat das psychologische Institut der renommiertesten Universität der Stadt überfallen lassen. Dessen Wahlkampfsöldner haben alle Forschungsergebnisse über die Möglichkeiten zur Massenmanipulation von Menschen gestohlen. Dass sich da ein einzelner Bürger die mit Steuergeldern von Millionen Menschen bezahlte Arbeit angeeignet hat, stört ihn nicht weiter. Das ist schließlich politisches Tagesgeschäft - macht doch jeder in der Branche: Vergesellschaftung der Kosten und Privatisierung der Gewinne ist ein alter Hut. Nur so wird man wirklich reich. Nein, die Nutzung der Macht der Wissenschaft im Wahlkampf jagt ihm einen gehörigen Schrecken ein. Wer weiß, was da alles so in den Forschungsergebnissen steht? Er schätzt seinen Gegner zwar als 'total bescheuert' ein, aber lesen kann dieser trotzdem... Seine Quelle aus dem mächtigen Polizeigeheimdienst deutet ihm an, dass gewisse Hinweise existieren: Aus dem Tresor des ausgeraubten Instituts sind brisante Unterlagen verschwunden. In ihnen soll beschrieben sein, wie die massenhafte Manipulation von Menschen mithilfe von Fernsehsendungen möglich ist. Die Möglichkeiten sollen angeblich bis zur Massenhypnose und der dauerhaften Veränderung von Hirnstrukturen reichen. Der Institutsdirektor ist jedenfalls verzweifelt und möchte seine Unterlagen umgehend wiederbeschafft haben. Frank ist alarmiert: Wenn diese Nachricht wahr ist, dann droht ihm eine Niederlage im Wahlkampf. Das wäre eine Katastrophe, gerade jetzt, wo er doch schon das zukünftige Gehalt komplett verplant hat.

Das Klingeln des Telefons reiß Frank aus seinen Gedanken. Er nimmt das Mobilteil aus der Halterung. Seltsamerweise fühlt es sich warm und feucht - nahezu glitschig, schleimig - an.

"Wer ruft an?"

"Heinz hier. Es gibt neue Nachrichten."

Das Gerät, das Frank an sein Ohr hält, wird mit einem Mal kochend heiß. Er hält es nur noch zwischen den Fingerspitzen der rechten Hand und ist bemüht, es nicht sofort auf den Boden zu werfen.

"Fasse dich kurz, es wird heiß."

"Ja, wird es: Die planen eine 'hirnaussaugende Fernsehansprache'. Alle Zuschauer werden zu Zombiwählern werden."

"Wie bitte?" Das Telefon beginnt zu qualmen. Bunte Rauchschwaden dringen aus der Ohrmuschel und kreisen in Spiralen um Franks Kopf. Sie spinnen ihn in einen farbenfrohen Kokon ein. Ein grüner Faden aus Rauch kitzelt ihn unter der Nase und pickt unvermittelt in sein linkes Ohrläppchen. "Aua! Lass das! Du sollst berichten und nicht stänkern."

Kurz danach landet das Telefon auf dem Fußboden und rutscht scheppernd in die nächste Ecke des Raumes. Mit einem leisen 'Pfft' entweicht leuchtend purpurner Rauch aus dem Gerät. Die kleine Wolke breitet sich langsam vor diesem aus und verhüllt es. Frank wedelt genervt die farbige Luft hinweg und betrachtet das Stück Plastik.

Einige Sekunden Pause später klingt es sehr leise, hohl und scheppernd aus der Ecke: "Was ist los?"

Mit lang ausgestrecktem Arm und Zeigefinger berührt Frank vorsichtig die Taste der Freisprechfunktion.

"Ähh ... hier wurde es heiß und bunt. Was ist nun?"

"Na sagte ich doch: Die haben die Unterlagen entwendet und planen nun den totalen Wahlzauber. Alle Wähler sollen zu willenlosen Zombies manipuliert werden. Wo die dann ihr Kreuz machen, ist wohl klar..."

Pause.

"Oh, das muss unbedingt verhindert werden. Konntest du in Erfahrung bringen, wann der Wahlspot gesendet werden soll?"

"Heute um 18 Uhr 30 auf dem Kan..."

Das Telefon fängt an zu zischen. Auf seiner schwarzen Plastikhülle bilden sich farbige Blasen. Einige davon platzen und es entweicht wieder purpurner Rauch. Dann verändert das Gerät langsam seine Form und zerfließt zu einem schwarz-braunen Klecks - nicht unähnlich einem frischen Kuhfladen. Angewidert wendet sich Frank ab. Technik aus China, was soll man da erwarten: Die ist in keinem Falle ökologisch gezüchtet und aufgewachsen.

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Frank läuft im Zimmer Auf und Ab - immer schneller. Der Luftzug seiner hektischen Bewegungen lässt die Blätter der Zimmerpflanzen vibrieren. Was soll er nun tun? Alles hängt an ihm. Er muss ganz allein die große Stadt retten, wenn nicht die gesamte Welt. Gar nicht auszudenken, was geschieht, wenn die andere Seite mit dieser hinterhältigen Aktion Erfolg hat. Alle Wähler werden zu politischen Zombies! Was soll er nur tun? Die Ratlosigkeit ist ihm ins Gesicht geschrieben. Abwechselnd reißt er die Augen weit auf und kneift sie anschließend wieder zusammen. Trotz dieser aufwendigen und energiereichen Anstrengungen sieht er keinen Weg, die Katastrophe zu verhindern. Er läuft immer schneller durch das Zimmer. Der erste Stuhl am großen Esstisch fällt um, als er diesen zum wiederholten Male passiert. Frank stößt ihn mit großer Wucht zur Seite und steigert seine Geschwindigkeit weiter. Nichts: immer noch keine Idee. Dann geschieht es. Er überträgt einen beträchtlichen Anteil seiner kinetischen Energie auf den Gummibaum. Dieser beginnt zu schwanken und Frank bringt ihn mit einer ungeschickten Handbewegung final zu Fall. Es kracht, knirscht und Splitter des tönernen Übertopfes fliegen durch die Luft. Zwei von ihnen kreuzen direkt vor seiner Nase ihre Flugbahn - irgendwie in Zeitlupe. Als ob die Schwerkraft seines Hirns die kleinen Tonteilchen anzieht, schwenken sie auf eine Umlaufbahn um seinen Kopf ein. Gleich kleinen Satelliten tauchen die beiden Splitter immer wieder vor seinen Augen auf. Nach der fünften Umrundung seines Hauptes beginnt er nach den lästigen Begleitern zu schlagen. Er trifft, die Splitter fallen auf den Boden, kollern einige Zentimeter und bleiben neben dem Gummibaum liegen. Dessen Spitze ist abgebrochen. Die beiden Stückchen Ton platzieren sich zwischen der geköpften Pflanze und ihrem krönenden Ende. Der Anblick formt sich zu einer Erkenntnis. Sie trifft ihn wie ein Blitz. Wenn er die Spitze des Fernsehturms vor der Ausstrahlung der Sendung entfernt, dann ist deren Empfang unmöglich. Genau das ist es: Er muss nur die Spitze des Berliner Fernsehturms absägen! Wo war doch gleich seine kleine Metallsäge?

Im nächsten Moment hängt Frank von außen an der Kuppel des Fernsehturms. Mit einem alten, braunen Ledergürtel hat es sich eine kleine Metallsäge auf den Rücken geschnallt. Der Wind bläst ihm von der linken Seite ins Gesicht. Wegen des starken Luftzugs tränen seine Augen und er muss eines zukneifen. Mit dem anderen blickt er vorsichtig in die Tiefe. Tief, sehr tief, wirklich extrem weit unten ist der Boden zu sehen. Das Bild kippt zur Seite und wieder zurück. Sein Magen meldet sich mit dem gleichen Manöver. Nur kippt der zuerst nach oben. Frank verliert einen kurzen Gedanken daran, die Saugnäpfe, mit denen er sich an den Fenstern der Kuppel hält, einfach loszulassen. Dem Impuls nicht folgend, krallt er sich in die Holzstiele der beiden Saugnäpfe. 'Warum müssen das eigentlich immer Gummipömpel sein? Gibt es keine ausgefeiltere Technik für solche Aktionen?', denkt er verwundert. In diversen Filmen sieht man solch moderne Technik und er muss sich hier an diesen roten Gummisaugern für die Toilettenreinigung in mehreren hundert Metern Höhe halten. Mehrere hundert Meter? Sein Hirn schlägt Alarm. Das Blut steigt ihm in den Kopf und beginnt sich in den Schläfen zu pochend zu konzentrieren. Mit beiden Augen fixiert er schielend seine Nase und beobachtet, wie diese anschwillt. Mit einem leisen 'Plick' stupst sie gegen die große, grünliche Scheibe, an der er hängt. Im Inneren der Kuppel, hinter der Scheibe und in seiner Sichtlinie, steht eine ältere Frau. Sie streckt die Arme zu ihm aus, bis sie mit den Fingerspitzen das Glas berührt. 'Ah, meine Wähler wollen ihrem Retter danken.', freut sich Frank. Die Frau reißt den Mund auf und schlägt mit dem Gesicht gegen das Glas. Er hört das Klacken ihrer Zähne beim Aufprall auf das harte, durchsichtige Material. Die spitzen Eckzähne schnappen deutlich hinter dem dicken Glas, direkt nach seiner unnatürlich verlängerten Nase. Es ist fast so, als ob die Frau ihn beißen möchte! Er zuckt nach hinten und vergisst, dass sich zwischen ihnen ein fast undurchdringliches Fenster befindet und er nur an zwei Holzgriffen von Toilettensaugern hängt. Im letzten Moment fängt er sich und ihm fallen seine Lage und die Mission wieder ein. Er strampelt, um mehr Halt zu finden. Seine Beine hängen hilflos nach unten und seine Füße stoßen auf keinen Widerstand an der glatten, kalten Fläche. Immer wieder versucht er, sich abzustützen. Hatte er nicht vor wenigen Augenblicken noch Schuhe an den Füßen? Jetzt rutscht er mit den nackten Sohlen seiner Füße über das Glas. Die Beine baumeln in Richtung der endlosen Tiefe. Er vermeidet den Blick in diese so sehr er es vermag. Jedoch zieht der Boden seine Aufmerksam magisch auf sich. Lange kann er sich gegen diese spezielle Blickrichtung nicht wehren. Die Augen gehorchen seinem Willen nicht. Aus den Augenwinkeln schielt er nach unten. Das Rote Rathaus kommt in Sicht. Das Ziffernblatt der Uhr im Turm des Backsteingebäudes scheint seinem Blick entgegenzukommen. Es wird merkwürdig pulsierend größer und größer. Bereits 18:50 - Oh Gott! Die Ansprache ist bereits gesendet worden! Er kommt zu spät mit seine Aktion.

Ein Blick zum Fuß des Turmes offenbart ihm weiteres, drohendes Ungemach. Von unten an färbt sich der Schaft dunkel ein. Die dunkle Farbe 'krabbelt' langsam aufwärts. Er konzentriert sich auf die Erscheinung und erkennt, dass dies viele Menschen sind, die übereinander steigen. Ein erschreckender Gedanke ergreift ihn: 'Hilfe, die Zombiwähler stürmen den Turm, um mich zu holen!' Diese Erkenntnis vernichtet in Sekundenbruchteilen seinen Willen. Unwillkürlich geben die Hände die Holzgriffe der Gummipömpel frei. Frank fällt in die Tiefe - ungebremst.

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Ein Aufschlag bleibt aus. Stattdessen sitzt Frank aufrecht in seinem Bett und wischt sich den Schweiß von der Stirn. "Uhhhh, zum Glück nur ein Traum. Ich sollte nicht mehr schlafen - das scheint ungesund für das geistige Wohlbefinden zu sein. Morgen muss ich mich unbedingt um dieses Forschungsinstitut kümmern. Vielleicht gibt es die Möglichkeiten zur Massenmanipulation ja wirklich. Diese muss ich in meine Hände bekommen...", spricht Frank laut vor sich hin. Dieser Gedanke beruhigt ihn. Er fällt in das Bett zurück und schläft abermals ein: bereit für den nächsten, aufregenden Traum.

Eine interessante Notiz ergänzt die Aufzeichnung des Traumes. Sie ist quer über den Rand des Originals geschrieben. Als der Patient die Idee von der Entfernung der Turmspitze erläutert, fragt der Psychiater: "Aber jedes Kind weiß heute, dass die Fernsehübertragung gar nicht mehr von diesem Turm abhängig ist. Internet und so... Das ist doch eine sinnlose Aktion?" Die entrüstete Antwort von Frank ist wortwörtlich notiert: "Bin ich ein Kind?"