Der Allesverkäufer - Auftakt zum Untergang

E

in ausladendes Tablett mit frischen Mettbrötchen schwebt durch den Raum. Sie sind zu einem großen Hügel aufgetürmt. Die verführerische Kombination der Gerüche warmer Brötchen, frischer Mettwurst und zerhackter Zwiebeln folgt dem scheinbar schwerelos schwebenden Lebensmittelkunstwerk. Alle Anwesenden im Gastraum des Kulturhauses sind in die Magie der Gerüche eingewoben. Sie folgen konzentriert dem Wahrnehmungsmagneten. Renate, die das Blech hoch erhoben über ihrem Kopf zwischen den Tischen hindurch manövriert, bemerkt niemand. Auf die Frage 'Sage 'mal, wie sind denn die Mettbrötchen von der Küche zum großen Tisch der Reisegruppe gekommen?', würde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Antwort 'Na die sind quer durch den Raum geschwebt und leider nicht bei mir gelandet.' folgen. Renate Hummel, die Gastwirtin des Kulturhauses, hat die Brötchen persönlich gebacken, halbiert, den frischen Hackepeter auf diese gestrichen, Zwiebeln gehackt und deren Stückchen darüber verteilt. Sie führt das mit der Perfektion jahrelanger Übung aus, ohne sich dabei zu langweilen. Als Gastwirt hat man seine Tätigkeiten und das tagein und tagaus - so wie die Bauern aufs Feld fahren, auch jeden Tag wieder. O.k. stimmt nicht ganz: der typische Bauer fährt nicht jeden Tag auf das Feld. Viele Pflanzen wachsen einfach besser, wenn man sie nicht bei ihrem täglichen Tun beobachtet. Zumindest ist das eine Weisheit, von Hans-Jürgen Pfanntiegel. Als jahrzehntelanger LPG-Chef in Ranzlow muss er das wissen. Schließlich ist seine Sommergerste immer wieder prämiert worden und hat ihm den lukrativen Vertrag mit der Bio-Brauerei eingebracht. Die kauft exklusiv die gesamte Ernte der Sommergerste und spendiert obendrein jedem Ranzlower Einwohner täglich ein Freibier. Das garantiert seit Jahren die wirtschaftliche, politische und emotionale Stabilität im Ort. Auch in Ranzlow gilt die Unschuldsvermutung: Gäste werden als nett und harmlos angesehen, bis sich das Gegenteil herausstellt. So bekommt jeder Gast im Kulturhaus ebenfalls ein tägliches Freibier. Er ist ja vorübergehend ein Ranzlower Einwohner und manch ein Besucher ist dauerhaft im Ort geblieben. 'Landflucht' ist in Ranzlow unbekannt, auch Dank des Freibiers. Die Teilnehmer der Reisegruppe haben ihr erstes, freies Bier bereits getrunken und plündern nun das Tablett mit den Mettbrötchen. Da alle am Tisch Sitzenden mit Kauen beschäftigt sind, ist es ruhig geworden. Dieter Dorsch sieht seine Chance. Die Kontrolle über das weitere Geschehen und damit auch die Verkaufsprovision wartet auf ihn. Seine Gesichtszüge straffen sich, die Augen rücken scheinbar einige Millimeter zusammen und blicken konzentriert auf die Essenden. Mit einem weiteren, prüfenden Blick versichert er sich, dass die mitgebrachten Kartons noch neben ihm aufgestapelt sind. Ein Turm aus drei großen Paketen steht an der Wand. Sie sind von außen mit Packpapier beklebt. Sein Assistent hat in einer ausgedehnten Bastelstunde den Inhalt anonymisiert. Ein anwesender Ranzlower hatte schon gemutmaßt, dass in den Kartons Staubsauger seien: Vertreter verkaufen immer Staubsauger. Staubsauger und Lexika, das sind die Lieblingsspielzeuge dieser Berufsgruppe. In Ranzlow hält sich seit Jahren das Gerücht über den 'Horrorvertreter'. Dieser soll mit seinen Staubsaugern das Wissen aus Büchern - im Besonderen aus Lexika - saugen können. Zurück bleiben fein eingebundene Stapel weißen Papiers. Da Ranzlow nicht unbedingt an der üblichen, von Vertretern genutzten, Verkaufsroute liegt, war seit über zehn Jahren kein Handelsreisender mehr im Ort. So harrt das Gerücht weiterhin der Prüfung. Dieter weiß davon nichts. Er meditiert noch einige Sekunden, um die letzten, ablenkenden Gedanken zu verscheuchen. Auf dem Punkt der höchsten Konzentration beginnt er mit seiner Verkaufs-Show, so perfekt wie immer.

„Liebe Mitreisende, wir kommen nun zum Höhepunkt unseres Ausfluges in die herrliche Brandenburger Natur. War unsere Fahrt zu diesem Gasthof nicht eine verführerische Reise durch märchenhafte Landschaften? Wir haben viel gesehen und nun zeige ich ihnen die Krönung dessen, was sie mit Strom aus Brandenburg erschaffen können. Die elektrische Energie aus heimischer Braunkohle ist bereits die perfekte Veredlung prähistorischer Wälder dieses Landstriches. Die äußerste Perfektion erlangen die fließenden Elektronen aus der Mark Brandenburg jedoch erst mit...“

Friedrich Krüger beobachtet die Reisegruppe seit ihrer Ankunft im Kulturhaus. Nach dem Auftakt im Bus möchte er sich weiteren, nachmittäglichen Spaß in keinem Fall entgehen lassen. Er kann sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal eine große Gruppe von Touristen im Ort zu sehen bekam. Die Veränderung in Dieters Benehmen nimmt er sofort wahr. Ihm wird schnell klar, dass es sich hier um einen Vertreter handelt, der irgendein unwichtiges Zeugs an die Reisenden verkaufen möchte. Diese sehen erstaunt ihren Reiseleiter an. Mit einer Ansprache hat zu diesem Zeitpunkt niemand am Tisch gerechnet. Nach einem Bier und frischen Mettbrötchen sind sie zufrieden, satt und ruhig. Und kaufen möchten sie nichts. Ihre Wohngemeinschaft ist mit allen Annehmlichkeiten und sonstigem, hilfreichen Zeug, das nicht benötigt wird, ausgestattet. Sie haben schließlich zwölf Haushalte zusammen geführt. Krüger sieht in erstaunte und uninteressiert bis abweisende Gesichter. Er sieht einen Vertreter mit rhetorischen Talenten, der beginnt zu seiner Höchstform aufzulaufen und er mischt sich ein.

"Ja, wenn ich dann 'mal auch etwas sagen darf, ich würde die Kohle dort lassen, wo sie ist. Die Karlotta macht hier Strom aus allem, was so im Wald und auf dem Feld herum liegt und nicht angenagelt ist. Und genug liegt herum, im ganzen Land. Vielleicht sind ja sogar Flughafendesaster und Chipfabrikfundamente verstrombar. Ob unsere Elektronen grün sind, kann man nicht sehen, aber irgendwie leuchten unsere Straßenlaternen heller, seit sie die Versorgung übernommen hat. Ich hab' da 'mal was von Quarks gehört, ...“

"Mensch Krüger, behalt' deinen Quark für dich. Hier hast ein Bier und nun gib Ruhe." Sein Freund Meier setzt sich zu ihm an den Tisch und stellt ein, exakt bis zum Eichstrich gefülltes Bierglas vor ihn auf den Tisch.

"Häh, ist deine Schicht schon zu Ende? Hast mich doch erst vor drei Stunden abgelöst."

"Nö, aber alle Fahrzeuge sind auf dem Hof und repariert. Moskow hat die Werkstatt abgeschlossen. Hatte wohl keine Lust mehr - prost!"

Reiseleiter Dieter ist durch Krügers Unterbrechung seiner Konzentration beraubt worden. Während erst Krüger und dann auch noch dessen neuer Tischnachbar den Ablauf seiner Show durcheinanderbringen, wächst eine Zornesfalte auf seiner Stirn. Sie gräbt eine tiefe Furche von der Nasenwurzel bis zum Haaransatz und wird dort von dem mittig gezogenen Scheitel seines schwarzen, pomadisierten Haares bis zum Hinterkopf verlängert. Im Dämmerlicht des beginnenden Abends und der schwachen Lampen des Schankraumes, sieht es so aus, als ob sein Kopf beginnt, sich in zwei Hälften zu teilen und demnächst auseinanderklappt. Die Augen sind zusammengekniffen und die Pupillen vor Erregung extrem geweitet. Das Weiße scheint komplett aus seinen Augen verschwunden zu sein. Sein Mund ist zu einem schmalen, waagerechten Strich zusammengepresst, dessen Winkel zucken wiederholt wild und abwechselnd nach oben. Schlechte Vibrationen springen wie Blitze durch den Raum und werden durch die erschrockene Reaktion in der Nähe sitzender Besucher visualisiert. Zwei Reiseteilnehmer denken wiederum an die Zombieapokalypse und sinken auf ihren Stühlen zusammen: wer zuerst gesehen wird, wird auch zuerst zerbissen. Nun fällt Dieter nicht auseinander oder verbeißt sich in Touristen, sein Zorn entlädt sich in einer emotionalen, verbalen Eruption.

"Ahhhh! Ich habe hier und jetzt das Sagen - ihr haltet sofort die Klappe! Was bildest du dir da überhaupt ein, fortlaufend meine Arbeit zu stören! ICH BIN JETZT DRAN UND IHR MISCHT EUCH NICHT MEHR EIN!" Bei den letzten Worten zeigt er mit der ausgestreckten Hand drohend auf Krüger und Meier. Die Blicke aus seinen endlos tiefen, dunklen Augen verdampfen die beiden inklusive Tisch, Biergläsern und Stühlen gewaltig. Die Explosion hinterlässt eine trübe, virtuelle Wolke schlechten Karmas an ihrer Stelle.

Krüger ist nicht erschüttert, ganz im Gegenteil zeigt er deutliche Zeichen der Freude und sagt leise zu Meier: "Au fein, jetzt wird's lustig. Heute Abend wird keine Langeweile aufkommen, prost."

Dieter bekommt das nicht mit, da er sich bereits wieder seiner Reisegruppe zugewandt hat. Jeden der um den großen Tisch Sitzenden sieht er nacheinander strafend an. Das dies offensichtlich kein guter Anfang für provisionsreiche Verkäufe ist, stört ihn im Augenblick nicht. Wie immer versucht er, die vollständige Kontrolle über die Situation zu erlangen. Dabei erinnert er sich schmerzlich daran, dass dies heute nicht das erste Mal ist. Abrupt und gehetzt setzt er seine Verkaufsshow fort - nur keine Unterbrechung mehr zulassen.

"Nun liebe Reisegäste, ich werde sie nicht mehr auf die Folter spannen. Hier ist ihr Supergewinn des heutigen Abends! Hier ist der Höhepunkt unserer Reise, hier ist es, das ultimative Erlebnis, auf das sie so lange warten mussten!"

Nach diesem, für ihn wirklich sehr kurzen Ausspruch, reißt er mit einer schwungvollen Bewegung das Packpapier von der Front des obersten Paketes neben ihm. Ein grell buntes Foto wird sichtbar. Auf ihm sind fröhliche und scheinbar glückliche Menschen zu sehen, die im Kreis um einen Tisch stehen. Auf diesem befindet sich in der Mitte ein unförmiger Kasten mit vielen Knöpfen, Anzeigen und Reglern. Zwischen dem Kasten und den glücklichen Menschen liegen Unmengen zerkleinerten Gemüses auf dem Tisch.

"Das ist sie: die Küchenmaschine für viel beschäftigte Menschen! Sie spart Zeit und Geld. Sie kocht die fantastischsten Gerichte und das auch noch vollautomatisch. Ein Stück Technik, das ganz offensichtlich auf einer Zeitreise aus der Zukunft zu uns gesandt wurde, um sie persönlich zu begeistern, sie glücklicher zu machen. Dieses Wunderwerk wird in ihrem viel beschäftigten Leben neu Freiräume schaffen, die sie mit Beschäftigungen jenseits langweiliger Küchentätigkeit füllen können. Ich lade sie jetzt zu einer weiteren Reise ein. Ja sie hören richtig: am Endpunkt dieser Busreise bekommen sie eine kostenlose, fantastisch-kulinarische Reise in die Welt der Zukunft. Es ist ihre Zukunft - denn ich verspreche ihnen, sie werden so begeistert sein, dass sie noch heute und hier diese Wunderwerke ihr Eigentum nennen werden möchten."

Die am Tisch sitzenden Freunde der Wohngemeinschaft sind verwundert über den rasanten Stimmungswandel und entsetzt über den Fortgang des Geschehens. Sie möchten sich weiter mit Bier, Mettbrötchen und satten Gesprächsthemen beschäftigen. Jetzt müssen sie mit weit aufgerissenen Augen ansehen, wie ihr Reiseleiter des Tages den obersten Karton auf den Tisch wuchtet. Der Aufprall des Paketes zerdrück scheinbar die zufriedene Grundstimmung, die sich noch zuvor auf und um dem Tisch ausgebreitet hatte. Der Inhalt scheint nicht leicht zu sein. Die Oberarmmuskeln unter seinem Hemd sind angespannt, einige Partien seines Gesichtes röten sich. Er atmet hörbar aus, als der Karton endlich auf dem Tisch steht. Reste des Packpapiers kleben noch auf dem Foto, das über die gesamte Front des Paketes ausgebreitet ist. Dass ausgerechnet das Gesicht einer Frau komplett gelblich grau überklebt ist, irritiert die Betrachter in dem gleichen Maße, wie auch das komplette Fehlen von Schrift auf dem Karton.

Alle anderen Anwesenden im Schankraum sehen interessiert zum Geschehen am größten, ovalen Tisch in der dunklen Ecke. Die Gespräche im gesamten Raum sind erstorben. Es herrscht eine für das Kulturhaus ungewöhnliche Ruhe. Da geschieht offensichtlich etwas sehr außergewöhnlich Faszinierendes. Vor noch nicht langer Zeit schwebte ein großes Tablett mit Mettbrötchen als Aufmerksamkeitsmagnet durch den Raum, jetzt hat die ungewöhnliche Reisegruppe diese Aufgabe übernommen. Langweilig scheint der Nachmittag und Abend im Kulturhaus nicht zu werden.

"Hallo Frau Wirtin, kann ich bitte einen Stromanschluss bekommen?" ruft Dieter in Richtung des Tresens, während er den Karton aufschneidet und Unmengen an Verpackungsmaterial aus diesem extrahiert. Auf dem Boden beginnen sich bereits verschiedene Hügel aus weißen Schaumpolystyrolflocken zu bilden, ganz als ob eine Herde von Maulwürfen unter den Dielen ein Polystyrollager ausräumt. Wie zu erwarten, fühlt sich nicht Renate Hummel, sondern Friedrich Krüger angesprochen. Er hatte den zentralen Ranzlower Weihnachtsbaum vor einigen Monaten auf- und wieder abgebaut. Deshalb weiß er, wo das Verlängerungskabel für die Beleuchtung liegt. In die Steckdose ist ein Funkempfänger integriert, den er von seinem Smartphone aus steuern kann. Truedie hatte ihm diese Verlängerungsschnur direkt aus China importiert. Das war zu den Festtagen ganz praktisch. Er musste nicht immer für das Ein- und Ausschalten der Beleuchtung im Kulturhaus anwesend sein. Diese Aufgabe hatte ihm der Bürgermeister als Strafe auferlegt, weil er ein Jahr zuvor mit seiner Krautfrei-Aktion den weihnachtlichen Frieden gestört hatte. Krüger beeilt sich, die Verlängerungsschnur aus dem Wandschrank im Wirtschaftsraum zu holen. Er bringt sie zu Renate an den Tresen.

"Hier Renate, kannste dem Vertreter bringen." Damit reicht er ihr das aufgerollte, rote Gummikabel.

"Warum ich? Bring ihm das doch selbst."

"Nee, mach' 'mal bitte. Der kann mich irgendwie nicht leiden."

Renate blickt ihm in die Augen. "Sage 'mal, hast du schon vor seinem Besuch hier einen Spaß mit ihm gemacht?"

"Jo nö, kann man so auch wieder nicht sagen."

Krüger nimmt sich schnell zwei neue, frisch gefüllte Gläser Bier vom Tisch und beeilt sich, zu Meier zurückzukommen.

Die Aufbauarbeiten am Tisch der Reisegruppe schreiten gut voran. Dieter hat mit einem weiteren Kraftakt die Maschine aus dem Karton gehoben, aufgestellt und mit Strom versorgt.

"Dass das mit unseren grünen Elektronen 'mal gut geht." lässt sich Krüger vernehmen.

Als Antwort bekommt er vom Reiseleiter nur einen vernichtenden Blick gesandt. Der hätte ihn, falls er getroffen hätte, aus dem Universum und der Zeit in das große, leere Nichts geschleudert. Dieter hat jedoch keine Zeit zum Zielen. Er holt aus einer Kühltasche große, bereits geschnittene Mengen unterschiedlichen Gemüses und verteilt es in der gleichen Art und Weise wie auf dem Foto rund um die unförmige, futuristische Maschine. Überall auf dem Tisch entstehen kleine, bunte Pyramiden. Während er ununterbrochen einen endlosen Schwall an Werbebotschaften hervorsprudelt und mit diesen die Teilnehmer der Kaffeefahrt gleichsam von den Stühlen spült, stopft er Gemüseschnipsel in die verschiedenen Öffnungen der Maschine. Jedes bunte Würfelchen verschwindet mit einem leisen 'Plopp' in ihrem Innern, fast so, als ob in ihr ein Unterdruck herrscht. Dieter kann offensichtlich seine zwei Hirnhälften getrennt voneinander nutzen. Seinen Mund verlassen weiterhin Prophezeiungen einer glänzenden, sorgenfreien Zukunft und seine Finger fliegen virtuos über die vielen Tasten und Regler auf der weißen Plastikverkleidung des Gerätes. Keine dieser Steuerungs- und Programmiereinrichtungen verfügt über eine Beschriftung in deutscher Sprache. Es sind nur sehr allgemeine Symbole zu sehen. Die Anzeigen auf den verschiedenen Displays zeigen ebenfalls nur Symbole.

"Das ist doch nicht etwa Klingonisch, oder?" fragt Franz-Joseph Hybelmaier, einer der Reisegäste. Er hebt sich durch seine gehobene, formelle Kleidung von der Gruppe ab. Das Ziel seiner Frage unterstreicht er, indem er mit seinem Gehstock auf das größte Display der Maschine verweist.

Dieter stockt, er friert förmlich ein. Sein Redeschwall ist abrupt erstorben und seine Hände schweben reglos über den Tasten, mit denen er einen Augenblick zuvor beschäftigt war. Schon wieder eine Unterbrechung, das kann doch nicht wahr sein! Seine Stimmung schlägt von geschäftiger Hoffnung in blinde Wut um. Von dem Gehstock, dessen Spitze nur wenige Millimeter vor einem der Displays zittert, fühlt er sich direkt angegriffen. Er hat sich so sehr in die Programmierung der Maschine vertieft, dass er sich voll und ganz mit dieser identifiziert. Das große Display ist praktisch gefühlt seine Brust. Mit einem wuchtigen Schlag entfernt er den spitzen Gegenstand, der seinen Maschinenkörper bedroht.

"Zeige nicht mit Messern auf mich!" zischt er Hybelmaier an, dessen Stock quer durch den Schankraum fliegt und hinter der Theke in einem Haufen Knüllpapiers glücklich und fast geräuschlos zu Boden geht.

Jetzt ist der Bann gebrochen. Die Reisenden überwinden ihr stilles Entsetzen und beginnen Dieter Fragen zu stellen. Hätte er die Kontrolle gehabt, wie sonst immer, dann wäre dies der entscheidende Einstieg in die Verkaufsgespräche gewesen. Wer fragt ist interessiert und wer Interesse hat, der kauft. Bei ihm ist das immer so, nur heute nicht. Die Fragen aus dem Publikum sind abweisender Natur, sie hinterfragen den Sinn der Maschine.

"Ja aber, wir sind Rentner. Wir haben ausreichend Zeit für die Küche. Wozu soll uns das nutzen?"

"Ja genau, wir arbeiten nicht mehr und wir gönnen uns den Luxus der Langsamkeit."

"Und wir kochen gern ohne Maschinen - einfach so - aus Spaß. Für das da muss man doch viel lernen, oder?"

"Kann das Ding denn nur Gemüse kochen? Mein Hirn verlangt nach tierischem Eiweiß, das da ist nichts für mich."

"Sag 'mal Reiseleiter, da steht doch gar nichts drauf! Weder der Karton, noch die Maschine haben irgendwo Schriftzeichen. Nicht 'mal ein Typenschild ist daran. Überall nur diese außerirdischen Symbole da. Ist das überhaupt hier zugelassen?"

"Ja wo ist denn das CE-Zeichen?"

Gehetzt fliegen Dieters Blicke zwischen den Fragenden hin und her. Jetzt ist das letzte Fünkchen Sicherheit aus ihm gewichen. Was soll er nur tun. Dieser Nachmittag ist DIE Totalkatastrophe. Er ist davon überzeugt, in diesem Augenblick die vertriebliche Apokalypse zu erleben. Seine Kunden haben sich gegen ihn verschworen. Niemand nimmt ihn und seine Äußerungen ernst. Die gesamte Situation ist für ihn nicht mehr beherrschbar. So ist es nicht verwunderlich, dass er sich in eine Ersatzhandlung flüchtet. Instinktiv begibt es sich auf ein Feld, das er glaubt zu beherrschen und auf dem er sich sicher fühlt. Sein Redeschwall setzt wieder ein. Trotzig fährt er in seinem Vortrag fort, ohne auf die Fragen zu antworten. Er drückt auf kleine, schwarze Tasten und programmiert die Zubereitung eines exotischen Gerichtes aus vielen unterschiedlichen Gemüsen in die verschiedenen Steuereinheiten des Gerätes. Dieses brummt in unterschiedlichen Tonfolgen vor sich hin. Ab und zu scheint es einen nahezu epileptischen Anfall zu erleiden. Dann schüttelt es sich und irgendein Rührwerk rotiert in ihm mit einer enormen Anzahl an Umdrehungen. In diesen Phasen geht das Brummen in ein lautes, kreischendes Stöhnen über. Alle Umsitzenden schrecken zurück, nehmen die Hände vom Tisch und drücken sich an die Lehnen ihrer Stühle. Dieter stört das nicht, er hat seine Umwelt ausgeblendet.

"... In der Zukunft, aus der das Gerät kommt, gibt es keine Staaten, keine Europäische Union, keine CE-Prüfung und Ähnliches mehr. In der Zukunft funktioniert alles einfach und immer. Ich verspreche ihnen, das ist das genialste Gerät, das sie je gesehen haben ..."

Auch Krüger empfindet die Geräusche, die das Wunder der zukünftigen Technik von sich gibt, als bedrohlich. Vorsichtshalber mischt er sich wieder in die Vorführung ein.

"Wurde die Zeitreise, die dieses Wunder zu uns brachte, vielleicht mit einem Containerschiff von China nach Hamburg ausgeführt?"

Krügers Stimme durchdringt das mentale Schutzfeld, das Dieter um sich errichtet hat. So gut sind seine akustischen Filter nicht, dass sie ihn komplett abschirmen können. Stärkere Reize dringen immer noch durch. Er konzentriert sich wütend auf die Maschine: zumindest diese hat er komplett unter seiner Kontrolle. Die Symbole auf den Displays wechseln nun in immer schnellerer Folge. Die Geräusche, die von dem unförmigen Kasten ausgehen, scheinen dem gleichen Rhythmus zu folgen. Aus einer Öffnung tritt Dampf aus. Ein dünner weißer Streifen steigt zischend zur Decke auf und verteilt sich dort unter der hölzernen Täfelung und zwischen den alten papiernen Girlanden, die wahrscheinlich noch von der letzten Rosenmontagsfeier stammen. Das Zischen geht im Laufe von etwa 20 Sekunden in ein schrilles Pfeifen über und blubbernde Geräusche mischen sich zusätzlich in das audiophile Inferno. Bis auf den Vertreter haben alle Anwesenden einen Sicherheitsabstand zwischen sich und dem Tisch entstehen lassen. Krüger wird das jetzt zu gefährlich. Außerdem freut er sich auf seinen nächsten Scherz, den er gut vorbereitet hat. Er nutzt sein Smartphone, ruft die Fernsteuerungs-App für die Steckdosenleiste auf und schaltet den Strom in dieser ab. Sofort verlöschen die Displays und im Gerät gibt es einen dumpfen Schlag. Ein Rührwerk ist wohl aus dem Rhythmus gekommen und hat sich in ein anderes verkeilt. Vielleicht ist aber auch einfach nur der Reaktor im Innern des magischen Wunderwerkes implodiert. Das Poltern und Stöhnen ist verstummt. Nur ein leises Pfeifen des Dampfes ist noch zu hören. Dann folgt Stille. Mehrere Sekunden rührt sich niemand. Der Raum mit allen Anwesenden scheint im Raum-Zeit-Kontinuum stecken geblieben oder in einen der berühmten Risse gefallen zu sein, ohne jegliche Bewegung. Erst Krügers Frage erweckt das Kulturhaus wieder zum Leben.

"Aber elektrischen Strom wird es schon noch in der Zukunft geben, oder Herr Vertreter?"

Der Angesprochene wirbelt herum, sieht Krüger wutentbrannt in die Augen und setzt zum Sprung an. In seinem Hirn gibt es nur noch einen Wunsch, einen einzigen Gedanken: endlich physische Gewalt ausüben, etwas zerstören, die Wut und angesammelte Enttäuschung abreagieren. Krüger, der das kommende Unheil ahnt, bringt schnell zwei weitere Tische zwischen sich und den Vertreter. Weiter kommt er nicht, da er die Wand erreicht hat und seinen Rücken fest an sie drückt. In dem Augenblick reift in ihm die Erkenntnis, dass er es etwas übertrieben hat. Die Maschine hätte sich wahrscheinlich selbst zerlegt und der Spaß dabei zuzusehen hätte auch gereicht. Es muss eine Art telepathische Verbindung zwischen ihm und der technischen Wunder aus der Zukunft bestehen. Mit einem lauten Knall, ähnlich einem Pistolenschuss, begeht die Maschine Selbstmord und zerbirst. Eine große Wolke Wasserdampf breitet sich mit rasanter Geschwindigkeit aus und hüllt den Tisch, die Gäste der Reisegruppe und den zornigen Reiseleiter in undurchdringlichen Nebel.

"Mensch, das ist Magie." stößt Meier hervor.

"Nu' sind sie weg." schlussfolgert auch Krüger.

"Solch eine Schweinerei in meinem Gastraum! Wer räumt das eigentlich wieder auf?" Renate ist mit der gesamten Situation schon etwas länger nicht mehr glücklich. In dem Moment, als sich die Maschine in Dampf auflöste, wollte sie gerade ihren Mann, den Bürgermeister, zu Hilfe rufen. Er sollte als öffentliche Respektsperson dem gesamten Unfug ein Ende bereiten und nun ist das Ende von allein eingetreten. Auch das ist gut - Ende gut, alles gut. Die große, weiße Wolke füllt immer noch die Ecke des Schankraumes aus, in dem sich der ovale Tisch befindet. Da aus diesem Teil des Kulturhauses kein Ton zu hören ist, geht Krüger langsam darauf zu. Die Reisegruppe kann nicht wirklich mit einem Knall und weißem Rauch verschwunden sein. Dampf ist kein Rauch und Magie gibt es nicht, auch wenn Meier fest davon überzeugt zu sein scheint. Der hält nach wie vor ängstlich Abstand zu dem Dampf und hat sich hinter dem Tresen in Sicherheit gebracht. Als Krüger die Wolke erreicht, steckt er vorsichtig seinen rechten Arm hinein. Wie er erwartet, verschwindet dieser darin und wird nach wenigen Zentimetern 'unsichtbar'. Ein leises Husten ist aus dem Nebel zu hören.

"Hybel! Hast du meine Brille schon wieder verspiegelt? Ich sehe dich gar nicht mehr. Der Scherz ist alt und niemand kann mehr drüber lachen."

"Bleib ruhig, ich war's dieses Mal nicht. Dass du nicht lachen kannst, weiß ich UND kann jemand lüften? Die Luft ist hier zum Zerschneiden und es stinkt!"

Zwei Gestalten lösen sich aus der Nebelwand. Sie stützen sich gegenseitig und wanken in Richtung der Fenster.

"Mein Gott, muss ich denn immer alles allein machen! Hybel nun hilf mir doch."

Es wird hektisch im Raum. Immer mehr Ranzlower und Reisende streben den Fenstern zu, drängen sich vor diesen und behindern sich beim Öffnen. Auch beide Außentüren werden schließlich aufgestoßen. Nachdem sich Dampf und Gerüche verzogen haben, wird das gesamte Ausmaß des technischen Selbstversuches von Dieter Dorsch deutlich. Die Maschine ist in der Mitte aufgeplatzt. Ein breiter Riss mit zackigen Rändern beginnt auf der linken Seite, läuft über den Deckel und endet auf der rechten Seite des Gehäuses. Über den Tisch sind die Gemüseteilchen wieder verteilt. Sie sehen nicht mehr frisch aus und ihre Anordnung variiert leicht zu der von Beginn der Vorführung. Eines der Rührwerke, die zwischenzeitlich erschreckende Tonfolgen erzeugt haben, steckt in der Täfelung der Decke. Vor dem Tisch steht der fassungslos auf das Werk der Zerstörung blickende Vertreter.

"Oh Gott, was habe ich denn da angerichtet. Das hätte tödlich sein können."

"Wenn du aufräumst, ist alles wieder gut und vergessen."

Renate übergibt ihm einen Eimer mit heißem Wasser und einen Schrubber samt Wischtuch.

"So und für alle gibt's auf den Schreck noch ein Freibier. Ähm, und das zerknödelte Rühreisen lass 'mal da in der Decke stecken. Da wollt' ich schon immer nen Haken haben."

****

Im Kulturhaus herrscht eine ausgelassene Stimmung. Die Gespräche summen quer durch den Raum und Dieter ist auch nicht allein beim Aufräumen. Krüger verhält sich fair und hilft ihm dabei. Alle sind beschäftigt und niemand sieht noch aus dem Fenster. So fällt der rostrote Traktor ohne Frontscheibe nicht auf, der hinter der Kirche auftaucht und mit viel Schwung auf den Parkplatz vor dem Kulturhaus poltert. Dabei nutzt er nicht die Auffahrt, wie die anderen Straßenfahrzeuge. Der Traktorist fährt einfach geradeaus. Er überquert mehrfach die Gehwege zu beiden Seiten der Straße, schneidet die leichte Kurve und fährt längs über die Bushaltestelle. Irgendwie schafft er es, die Lücke zwischen den beiden Sitzbänken der Haltestelle zu treffen, obwohl er optisch da nicht hindurchpassen dürft. Auf dem Parkplatz hält er rechts vom Reisebus. Dabei parkt er so eng ein, dass sein Fahrzeug den rechten Außenspiegel des Busses abreißt. Dessen Glas zerbirst klirrend und die Einzelteile des metallenen Gehäuses fallen mit einem dumpfen Aufprall auf den Boden. Sie rollen letztlich unter den Bus. Der Traktorist entfernt das Lenkrad seines Fahrzeuges und klettert aus dem rechten Seitenfenster. Dieses hat natürlich auch kein Glas und die Tür ist fest mit dem Rahmen der Kanzel verschweißt: ein praktisches Tuning, das ein Aufspringen während der Fahrt wirkungsvoll verhindert. Nach dem Sprung auf den Boden schiebt sich der Traktorist die alte Motorradbrille in die Stirn. Sie besitzt einen glänzenden Messingrahmen und ein breites Gummiband. Das hält sie nicht nur fest in ihrer Position, sondern bändigt auch seinen blonden Haarschopf. Die Haarbüschel werden über seinem Kopf aufgetürmt. Er hakt einen breiten Lederriemen mithilfe zweier Karabinerhaken an das Lenkrad und hängt sich dieses über den Rücken. Der schwarze Riemen läuft quer über die Brust seiner braunen Fliegerjacke aus gefettetem Leder und einem frisch gewaschenen Pelzkragen. Der Traktorist schreitet mit großen Schritten auf die Freitreppe des Kulturhauses zu. Die letzten Strahlen der Sonne blinken im blanken Messing der Motorradbrille. Seine schwarzen, russischen Offiziersstiefel blinken nicht mehr - sie sind staubig nach getanem Tagwerk: Feierabend.