Die Folgen von Ursachen

If they try to act like citizens
And rent them a nice little flat,
About the third night they are invited to fight
By a submachine gun rat-tat-tat.

Bonnie Parker - The Saga Of Bonnie And Desperate Clyde
R

egentropfen beträufeln Fenster und Tür, die die Wohnung vom Balkon trennen. Der leichte, kühle Wind bläst sie unter dem Balkon der oberen Wohnung hindurch. Attila sitzt auf einem Stuhl hinter der Glastür und sieht auf die Straße. Die Gardinen sind zur Seite gezogen. Er starrt nun schon über zwei Stunden auf die kleinen Wassertropfen, die mit der Zeit immer größer auf dem Glas werden und dann langsam nach unten rinnen. Sie bilden dabei einen dünnen Streifen aus Wasser, der auf seinem Weg weitere Wassertropfen einsammelt, mit nach unten reißt und immer breiter und schneller wird. Der untere Rahmen der Balkontür bremst die schnelle Bewegung abrupt und die Tropfen verschwinden in einem großen, weiten Nichts aus Feuchtigkeit auf dem Boden. Unwillkürlich bewegt er sich mit den Tropfen mit, die er auf ihrer Reise zum Fuß der Tür beobachtet. Attila kommt sich vor wie diese Regentropfen. Seine Partei wurde aus einer kleinen, verwegenen Idee geboren. In kurzer Zeit sammelte er immer mehr Anhänger um sich, denen er natürlich nicht die Wahrheit hinter seinen Bemühungen erzählte sondern viele tolle Ideen und Versprechungen auftischte. Wie eine Lawine fegte er durch das Land, die Medien, den Wahlkampf. Seine Anhängerschaft wuchs ins Unermessliche. Zwei Tage vor der Wahl wurde der Kerngedanke seiner Ideen offenbart: Am vergangenen Freitag wurde der große Coup - seine geniale Idee - enttarnt. So kurz vor dem Triumph war alles vorbei, alle Hoffnung zerstob, genau wie die großen Wassertropfen jetzt auf dem Rahmen der Balkontür zerplatzen. Was blieb war Leere. Leere in seinem Kopf, in seinem Leben, in seiner Wohnung. Gut, diese war auch schon vorher leer, nur für die Zeit des Wahlkampfes gemietet. Berlin Marzahn ist für einen Kandidaten mit Volksnähe der ideale Wohnort. Sein Einzug in das Kanzleramt schien so sicher. Alle Prognosen sahen ihn unaufhaltbar an der Spitze. Dann wäre er in eine gesicherte Wohnung gezogen. Nun ist die Wahl für ihn ausgefallen. Alles scheint ausgefallen zu sein. Selbst die Wassertropfen fallen aus dem Himmel. Am Freitag Vormittag endete ein Strang seines Lebens. Ein neuer hat noch nicht begonnen. Attila verharrt immer noch in Warteposition - auf dem Stuhl hinter der Balkontür. Rechts von ihm steht ein Kasten mit leeren Wasserflaschen und links von ihm liegen die zerknüllten Verpackungen dreier großer Pakete Zwieback in einer Unmenge gelber Krümel. Ja, er fühlt sich krank. Vielleicht liegt es an dem Wahlkampfdesaster. Vielleicht liegt es daran, dass er hier seit Freitag sitzt, nicht geschlafen hat und ununterbrochen durch die geschlossene Balkontür auf die Straße starrt. In den vergangenen vier Tagen sind viele Autos vorbei gefahren. Einige haben gehalten - nur kurz, um anschließend schnell wieder aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Von einer Minute auf die nächste hat sich niemand mehr für ihn interessiert. Alles war bekannt, keine Frage offen. Nicht einmal die Vertreter der Boulevard-Medien hatten Interesse.

Ein großer, schwarzer, schwerer und extrem gepflegt aussehender Wagen hält vor dem Wohnblock. Direkt vor Attilas Balkon steigen zwei schwarz gekleidete Gestalten aus dem Auto und stellen es ab. Natürlich im Parkverbot - sie machen sich nicht die Mühe, den Parkplatz vor den "Gärten der Welt" auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu nutzen. Die vielen Wassertropfen auf dem Glas der Balkontür lassen Attila undeutlich erkennen, dass die beiden Anzugträger langsam und steif auf die Eingangstür unter seinem Balkon zuschreiten. Einer der beiden scheint zu hinken. Er zieht das rechte Bein nach, drückt mit der rechten Hand dagegen und humpelt in Richtung des Eingangs. Attila sieht ihnen deprimiert und uninteressiert zu, bis sie unter seinem Balkon verschwinden. Das Spiel der Tropfen an den Scheiben interessiert ihn augenblicklich mehr. Es ist beruhigend, da es sich vorhersehbar entwickelt. Ein lautes Poltern auf dem Gang vor der Wohnung unterbricht seine ausgedehnten Betrachtungen. Unwillig dreht er den Kopf zur Eingangstür und vernimmt ein deutliches "Там он живет.". Offensichtlich ausgerufen von einem der beiden Schwarzmänner, die vor wenigen Sekunden unter seinem Balkon verschwunden sind. Die Schuljahre melden sich in seinem Kopf mit Erinnerungen. Natürlich waren die vielen Russisch-Stunden nicht umsonst gewesen. Unbewusst setzt sein Gehirn die russischen Worte zu einem sinnvollen Inhalt zusammen. Bedeutete das nicht "Dort wohnt er."? Ein metallisches, hartes Klopfen lässt das Blatt der Tür vibrieren. Knöchel einer Hand verursachen angenehmere Geräusche. Attila erstarrt auf seinem Stuhl. Seit mehreren Tagen hat niemand ein Interesse an ihm gezeigt. Wer hat ihn jetzt, auf seinem persönlichen Tiefpunkt, gesucht? Ein freundlicher Besucher geht sanfter mit Wohnungstüren um.

Auf dem Gang sehen sich die beiden Schwarzmänner fragend an. Sonst wird ihnen immer bereitwillig und sofort geöffnet. Von der Straße aus haben sie ganz deutlich Licht in der Wohnung gesehen und mit der Anwesenheit des Bewohners gerechnet. Der schwarz Gekleidete, der nicht humpelt, schlägt kräftig und ungeduldig mit dem Griffstück einer Pistole - eine Heckler & Koch P7 - gegen die Tür. Durch die Kraft des Aufpralls löst sich das Magazin und fällt zu Boden. Die Patronen springen heraus und hüpfen klickernd über den gefliesten Boden des Treppenhauses. Sie rollen in alle Richtungen davon: "дерьмо!"

"Trottel." kommentiert der andere Schwarzmann und schüttelt den Kopf.

"Selbst - Du, der macht nich auf."

"Geh zur Seite."

"Что?"

"Na, lass mich Tür treten."

"Gestern du hast auch Tür verprügelt. Heute ich."

"Du sammelst Patronen und ich trete Tür."

Der Schwarzmann mit dem steifen Bein humpelt in Richtung der Tür. Als er auf der Höhe seines Kollegen ist, stößt er diesen zur Seite. Ein leichter, kinetische Energieschub, der den Pistolero in eine Rückwärtsbewegung zwingt. Sie endet schnell auf den noch immer langsam über den Boden rollenden Patronen. Die haben sich aus unerfindlichen Gründen, die nur das Schicksal kennt, direkt hinter ihm konzentriert. Der Bewegte verliert das Gleichgewicht und rudert wild mit beiden Armen in der Luft. Seine Füße rollen auf den Patronen nach vorn und er fällt aufrecht sitzend auf den gefliesten Boden. Durch den harten Aufprall erschreckt, zieht er den Abzug seiner Pistole durch. Diese ist natürlich nie gesichert - man muss ja immer vorbereitet sein. Der letzte Schuss, der noch im Patronenlager der Waffe steckte, löst sich laut krachend. Der Knall hallt lang und trocken durch das Treppenhaus und der Geruch von verbranntem Schießpulver - der immer ein wenig an Silvesterfeuerwerk erinnert - breitet sich aus. Abgeschlagener Putz von der Decke breitet sich als Sand auf dem Boden aus und mischt sich mit den herumliegenden Patronen zu einem hübschen Stillleben. Er erfüllt auf jeden Fall eine wichtige Aufgabe: bremst die immer noch trudelnden Patronen ab. Zum Glück reicht die durch Reibung in Wärme gewandelte kinetische Energie nicht aus, um die Treibladungen zu zünden.

"дерьмо!"

"Trottel, nun alle wach."

Der hinkende Anzugträger bleibt, auf dem Putz-Sand knirschend, einen Meter vor der Tür stehen. "Hei, du, Schotermuler, ofne!"

Im Inneren der Wohnung hat sich die Lage auch nicht gerade entspannt. Attila ist sich jetzt sehr sicher zu wissen, wer ihn da besucht. Diese Sektion der Mafia zu senden, ist angesichts seines Vornamens eine Geschmacklosigkeit. Aber, was soll er sich aufregen. Sein Wahlkampf war nicht gerade preiswert. Er hat sich viel Geld leihen müssen - peanuts im Vergleich zum sicher geglaubten Gewinn aus dem gesamten Coup. Der ist jedoch ausgefallen und seine Gläubiger wissen dies. Es war schließlich einen ganzen Tag lang nicht zu übersehen und -hören. In allen Medien war es die Meldung des Tages. Ein wenig tröstet es ihn, dass sich doch noch Menschen um ihn kümmern, an ihn denken. Attila ist zu sehr Realist, um sich nicht bildhaft vorstellen zu können, was die beiden Schwarzmänner tun, wenn sie ihn in der Wohnung antreffen. Da er rein gar nichts besitzt, was er ihnen geben könnte, gibt es nur einen Ausweg: die Flucht. Den Schuss vor seiner Tür interpretiert er als klares Zeichen für die Entschlossenheit und das schnelle Handeln der Besucher. Er muss also noch zügiger handeln. Mit einem Sprung erhebt er sich von dem Stuhl, auf dem er noch immer sitzt. All die in den letzten Tagen angesammelte Lethargie hat ihn augenblicklich verlassen. Er reißt die Balkontür auf und beendet damit das Spiel der Wassertropfen auf deren Glas. Ein weiterer Sprung und er hängt außen am Balkongitter, sechs Meter über dem Boden und mitten im Sprühregen. 'So, jetzt bin ich auf der Flucht: auch interessant. Und es ist wie in jedem Film, es regnet.' sind seine ersten Gedanken. Entschlossen hangelt er am Gitter entlang in Richtung des Balkons der Nachbarwohnung. Mit ein wenig Glück kann er die trennende Mauer überwinden und das andere Gitter greifen. Wie es dann weiter geht, wird er sehen. Die ungewöhnliche, sportliche Betätigung treibt den Schweiß aus den Poren seiner Haut. Von der Aufregung und der Anstrengung ist sein Gesicht feurig rot und er ist nach den wenigen Sekunden am ganzen Körper bereits komplett durchnässt - nicht nur vom Sprühregen. 'Wenn ich das hinter mir habe, muss ich mich mehr bewegen. O.k. ein Auto werde ich mir in der nächsten Zeit so und so nicht mehr leisten können.' Viel mehr Zeit für Gedanken und Pläne hat er jedoch nicht. Die Balkonakrobatik erfordert seine ganze Aufmerksamkeit. Noch ist die andere Wohnung über einen Meter entfernt. Bisher hat er den Blickkontakt mit dem Boden gescheut. Als das Umgreifen mit der rechten Hand etwas länger dauert, weil er vom Gitterstab abgerutscht ist, blickt er unwillkürlich in die Tiefe. Er hatte mit Rasen oder Büschen gerechnet - irgend etwas halbwegs weichem. Die Offenbarung des Blickes treibt ihm noch mehr Schweiß auf die Stirn. Zwei Etagen unter ihm befindet sich die Terrasse der Paterrewohnung, mit bunten Betonsteinen gepflastert und zwei eingeklappten Sonnenschirmen, die wie aufgestellte Lanzen in den Himmel deuten. Sofort meldet sich seine Phantasie und zeigt ihm, wie sich einer der Schirme quer durch ihn bohrt, sein Kopf auf die Steinplatten schlägt und die Glasplatte des Gartentisches in seinen linken Fuß schneidet. Bevor sein Gehirn sich in Prognosen bezüglich der Schmerzen austoben kann, lenkt er seine Gedanken auf das Gitter des Nachbarbalkons. Mit ein wenig Schwung müsste er es greifen können. Müsste.

Der steifbeinigen Schwarzmann wartet vor der Tür. Ihm dauert das Ganze viel zu lange. Sein Partner - der Trottel - sitzt immer noch auf dem Boden und starrt auf seine Pistole. Der Gesuchte muss sich in der Wohnung befinden. Ein schwaches Poltern ist zu hören. Die Tür wird jedoch nicht geöffnet. Er hält die Ungewissheit nicht mehr aus, humpelt einen großen Schritt auf die Tür zu und springt gegen das Türblatt. So gut es sein Bein zulässt, stößt er sich aus den Fußgelenken heraus nach vorn. Dabei hält er sein steifes Bein mit der rechten Hand fest. Es ist deutlich zu sehen, dass er eigentlich nicht das Bein, sondern einen langen Gegenstand gegen das Bein drückt. Dieser Gegenstand ist unter der Hose verborgen und reicht vom Fuß bis zur Hüfte. Durch diese Behinderung ist der Sprung gegen die Tür etwas schwach ausgefallen. Der Schwarzmann prallt hart von ihr ab und taumelt rückwärts. Auf einer Pistolenpatrone und etwas Putz unter seinen Füßen verliert er das Gleichgewicht, noch im Türrahmen stehend. Auf der Suche nach Halt greift er instinktiv an das Gestell an seinem rechten Bein. Auf dem Boden leuchtet ein greller, roter Blitz auf. Unter den Füßen des Taumelnden breiten sich leuchtend rotes Feuer und Rauch über dem Boden aus. Der Donner des Schusses aus der Pumpgun, die er in seinem Hosenbein versteckt hat, rollt dröhnend durch das gesamte Treppenhaus. Das große Gewehr wird durch den Rückstoß der heißen Verbrennungsgase, die die Mündung des Laufes direkt über den Fußbodenfliesen verlassen, nach oben gerissen. Da der Schütze einen Anzug trägt, sucht es sich einen Weg in die Höhe unter dem Jackett. Diese Aufwärtsbewebung wird durch die Achselhöhle abrupt gebremst. Ein heftiger Schlag kugelt dem Schwarzmann den rechten Arm aus und die anschließend noch verbliebene, kinetische Energie wirft ihn nach links gegen den stählernen Rahmen der Wohnungstür. Dieser fängt unbeeindruckt den Stoß ab und kugelt auch noch die linke Schulter aus. Offensichtlich war die Pumpgun mit Signalmunition geladen. Das rote Feuer hat sich auf dem gesamten Absatz der Etage im Treppenhaus ausgebreitet und fließt zwei Stufen in Richtung der unteren Etage hinunter. Weiter kommt es zum Glück nicht mehr. Das helle, rote Licht verlischt und hinterlässt dichten, beißenden Rauch.

"Volltrottel! Warum hast du Kanone mit Signal gefüllt?" meldet sich hustend der auf dem Boden sitzende Anzugträger.

"Oaahhhauhu!" ist die langgezogene, einfache Antwort seines Kollegen.

Die Doppelschulterattacke auf die Tür bleibt nicht ohne Folgen. Das schwächste Element sind offensichtlich die Scharniere. Sie haben nicht standgehalten und das Türblatt fällt langsam, wie in Zeitlupe, in den Eingangsbereich der Wohnung. Das Poltern des Aufpralls auf den Fußboden wird durch den Teppich und den Nachhall der Schüsse in den Ohren gedämpft. Die beiden Schwarzmänner steigen stöhnend und hustend über die Tür hinweg und folgen dem dichten Rauch in den Flur. Der Dunst verteilt sich in der Wohnung, löst sich langsam auf und gibt den direkten Blick auf die offene Balkontür frei. Beide verharren vor dieser und legen eine Schweigeminute ein.

"Gehen wir Auto waschen. Ist einfacher."

"Gut, in Anlage brauche ich Arme nicht."

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Attila hängt am Balkon der Nachbarwohnung. Nach mehreren erfolglosen und seine Phantasien vom Aufgespießtwerden befördernden Versuchen, hat er den Grenzübertritt zu seinem Nachbarn erfolgreich geschafft. Von den Geranientöpfen der Wohnung in der obersten Etage tropft Wasser auf ihn hinab. Dieses vermischt sich mit dem Regenwasser und dem Schweiß und läuft kalt Nacken und Rücken hinunter. Attila bemerkt das gar nicht, da er sich komplett auf seine Flucht konzentriert. Mit den letzten Kraftreserven zieht er sich über die Brüstung und fällt schwer atmend auf den Boden des Balkons. Ihm ist klar, dass das nur der Beginn seiner Flucht über die Balkone und aus Berlin in die Tiefen der Provinz ist.