Irgendwo im Nirgendwo

D

er kleine, grüne Reisebus schaukelt langsam die Allee entlang. Die Welt um ihn herum ist angenehm warm. Die Sonne hat die Oberhand im Wettergeschehen übernommen. Obwohl die Blätter der großen Linden, die zu beiden Seiten die Straße säumen, noch nicht voll entwickelt sind, spenden die Bäume bereits ausreichend Schatten. Auf dem dunklen Asphalt tanzen die hellen, gelben Flecken der Sonnenstrahlen, die das löchrige Blätterdach durchdringen. Der Fahrer spielt mit ihnen. Er versucht, einige der Flecken mit dem linken Vorderrad zu treffen. Die leichte Kurvenfahrt verstärkt das Schaukeln des Busses. Während der Fahrt über die Felder hat sich der Bus aufgeheizt. Die Frühjahressonne durchdrang die klaren Scheiben ungehindert und erwärmte jedes Molekül im Inneren des Fahrgastraumes. Im kühlen Wald fährt der Fahrer jetzt betont langsam - da lassen sich die Lichtflecken auch viel besser treffen. Der Bus wiegt sich bedächtig in den Federn und die Blätter dieser quietschen leise - er ist nicht nur klein, sondern auch alt - und der Innenraum kühlt sich wieder ab. Vereinzelte Rostflecken und Dellen an der linken Seite sind stumme Zeugen einer bewegten Vergangenheit. Da führten die Reisen noch über die Alpen, mitten hinein in das schöne, quirlige Italien. Ja Italien! Da war immer so viel Leben auf den Straßen. Es gab Menschen, Autos, Motorroller, Mafiosi, es gab kleine Rempeleien und Hupkonzerte ... und niemand rief nach einer Klimaanlage. Heute ist kühle Luft Pflicht auf jeder Reise in den Süden. Sein Bus besitzt so etwas nicht. Trotzdem liebt der Fahrer seinen Bus. In diesem gibt es noch viel Messing, Aluminium und Holz. Mit Plastik waren die Konstrukteure weniger verschwenderisch umgegangen als heute. Er findet das Interieur wertig, einfach gediegen. Ganze 25 Jahre - ein viertel Jahrhundert - ist er nun gemeinsam mit seinem Bus stilvoll unterwegs. Sein Reiseunternehmen hat entschieden, dass das Gefährt nur noch für Tagesfahrten in den Norden taugt. So geht es auch heute dort hin. Mitten im Wald erreicht er eine Kreuzung. Zwei schwarze Asphaltbänder unterteilen die grüne, kühle Welt in vier Quadranten. Die Straßen treffen sich hier exakt im rechten Winkel. Kein Verkehrsschild verunstaltet die Kreuzung. Alle Richtungen sind gleichberechtigt und gleichwertig. Die Kreuzung überlässt dem, der sie befährt, die perfekte, unbehinderte Wahl der Richtung. Durch nichts beeinflusst kann der Fahrer über die Zukunft der Reise entscheiden - drei Richtungen stehen zur Auswahl. Ohne Hinweise von richtungsanzeigenden Schildern, einer Karte oder einem Navigationsgerät fehlt ihm jegliche Entscheidungsgrundlage. So hält er mitten auf der Kreuzung. Sofort melden sich einige der Fahrgäste zu Wort.

"Och nee, hab' ich es doch gewusst: jetzt ist der olle Bus auch noch kaputt."

"Wie sollen wir vom Ende der Welt wieder nach Hause kommen. Kann jemand sich erinnern, wann wir das letzte Mal einem anderen Fahrzeug begegnet sind? Ich nicht!"

"Ist bei dir doch ganz normal. Du weißt ja nicht 'mal mehr, ob du heute Morgen überhaupt aufgestanden bist."

"Hey, seht 'mal dort hinten im Wald, ist da nicht ein Haus mit bunten Lebkuchen zu sehen? Da wird es bestimmt den Kaffee und Kuchen geben."

"Wann bekomme ich denn nun endlich meine Kochtöpfe?"

"Ich dachte, heute gibt es Wolldecken ..."

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"Na sage 'mal Hybel, das ist ganz und gar nicht lustig. Wir sind hier verschollen am Rande der Zivilisation. Vielleicht ist die schon unter gegangen und wir haben das nicht mitbekommen."

"Du sagst es HaHa, wir haben den ganzen, finalen Spaß verpasst."

"Mensch Hybel, das ist wirklich kein Scherz. Stell dir vor, wir sind die letzten Menschen auf der Welt - seit einer Stunde haben wir keine weiteren mehr gesehen!"

"Solch ein Ärger, dann muss ich mit dir bis ans Ende meiner Tage auskommen?"

Die beiden älteren Herren bewohnen gemeinsam ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Diese ist komplett im Bus versammelt und mehr als bereit für eine 'Kaffeefahrt'. So nennt zumindest der Reiseveranstalter dieses Beisammensein. Die Rentner und Pensionäre sehen das anders. Die Fahrt und die Vesper sind kostenlos und ihren Spaß haben sie auf der kurzen Ausfahrt so und so. Außer HaHa nimmt niemand von ihnen den Rest der Welt sehr ernst. Falls der Reiseleiter sie am Ende der Veranstaltung nicht aus der Gaststube lässt - niemand hat vor irgendetwas zu kaufen - dann werden sie einfach den Bus kapern und sich ohne ihn und den Fahrer auf den Heimweg machen. Johannes hat einen Personenbeförderungsschein. Dessen letzte Verlängerung ist noch fast drei Monate gültig. Franz-Joseph Hybelmaier kommt aus den südlicheren Gebieten der deutschen Lande. Er hält viel auf sein Äußeres und ist darauf bedacht, aus der Gemeinschaft als der 'gut gekleidete' oder 'der mit Anstand' hervorzustechen. Die Nutzung eines Gehstocks verleiht seiner vornehmen Ausstrahlung einen vollendeten Ausdruck. Nach Aussage von Hybel - so nennen ihn seine Mitbewohner, wie er meint etwas respektlos - ist der Gehstock aus ebenmäßig gewachsenen, edelsten Hölzern gefertigt. Ein schwerer Knauf aus Sterlingsilber rundet das Kunstwerk ab. Das übermäßige Gewicht der großen Kugel bringt den ganzen Stock komplett aus der Balance. Das stört Franz-Joseph genau so wenig, wie die leicht rötliche Färbung des silbernen Knaufes. Da ist wohl etwas mehr als nur sieben Prozent Kupfer in der Legierung. Am unteren Ende des Schaftes ist 'chlorine-free, made in china' in das 'edle Holz' so gleichmäßig geprägt, dass es nur im Spritzguss hergestellt sein kann. Auch das stört ihn nicht, da er nie die englische Sprache erlernt hat, kann er leicht darüber hinweg sehen. Außerdem sieht kein Gemeinschaftsmitglied mehr ohne Brille die letzten Details und zum Betrachten des Endes einer Krücke setzt niemand diese auf. Sein Mitbewohner und ewiger Gegenspieler hat die meisten Jahre des Lebens an der Küste verbracht. Wind, Wetter, die vielen Kümmel und all die Probleme der gesamten Welt haben Hans Haansens Gesicht geerbt und tiefe Furchen in sein Antlitz gegraben. Seine Freunde nennen ihn 'HaHa' - verstehen kann er das nicht. Er fühlt die gesamte Schwere der Welt auf sich lasten. Ihm kommt es immer so vor, als ob nur er allein sieht, wie wenig der große Abgrund noch entfernt ist. All diese ungelösten Probleme und Widrigkeiten des Lebens sind schwer zu ertragen. Immer wieder erinnert er seine Mitbewohner daran, wie kompliziert doch schon ihre bloße Existenz ist, ganz abgesehen von der Unordnung, in der sich so gut wie alles auf dieser Welt befindet. Die Art und Weise dieser Erinnerungen lässt sich durchaus als kabarettistisch bezeichnen. Danach befragt, würde die gesamte Wohngemeinschaft behaupten, dass HaHa tief von hintergründigem Humor durchdrungen ist. Alle seine längeren Ausführungen und Taten haben eine Pointe, die lange Lachattacken auslöst. Dreht er sich dann auch noch beleidigt von den anderen weg, muss oft ein russischer Schluckauf-Beender auf den Tisch gestellt werden.

Da der Bus steht, sind die Reisenden aufgestanden und haben sich zu Hybel und HaHa begeben. Diese sitzen sich an einem kleinen Tischchen gegenüber und sind in eines ihrer legendären Gespräche vertieft.

"Musst du gar nicht. Ich bin doch der Einzige, der dich täglich vor der Katastrophe rettet."

"Ja, so wie du vorgestern meinen Alltagsgehstock angesägt hast. Der Sturz war vielleicht keine Katastrophe? Du hast mich nicht vor dem Untergang gerettet, sondern mich über die Klippe gestürzt."

"Von wegen Klippe, du kennst doch so etwas gar nicht. Und außerdem siehst du das vollkommen falsch. Ich habe dir doch schon erklärt, dass ich dir nur die Folgen deiner Handlungen vom vergangenen Wochenende klar machen musste. Du dallerst so durch die Welt und verstärkst die Probleme noch."

"Was meinst du mit 'Folgen meines Handelns'. Ich habe dir doch nur gezeigt, dass du selbst das Zentrum und die Ursache aller deiner Probleme bist."

"Ja klar, indem du die Gläser meiner Brille von innen verspiegelt hast. Die Beule von dem Stoß gegen den Spiegelschrank in unserem Bad habe ich immer noch auf der Stirn."

"Ach, das war nur ein Nebeneffekt. Die Brille ist doch jetzt perfekt: die zeigt dir in jeder Lebenslage die Ursache aller Probleme, über die du dich immer beklagst."

"Von wegen 'Nebeneffekt', ich sehe ja nur noch meinen eigenen Kopf in den Gläsern."

"Ja ebend, du siehst die Ursache. Mir deshalb meinen Stock anzusägen war einfach unfair. Ich gebe dir Anschauungsunterricht und helfe bei der Aufklärung deiner Probleme. Du antwortest mit einer lebensgefährlichen Kinderei."

"Ich weiß immer noch nicht, ob mein Optiker mir glaubte, als ich ihm sagte, das sei von allein passiert und natürlich ein Garantiefall."

Die Umstehenden lachen, obwohl sie diese Diskussion nun schon zum dritten Mal hören. Am vergangenen, langen Osterwochenende hatte das Wetter sie nur bedingt aus der Wohnung gelockt. So saßen sie im Gemeinschaftsraum und vertrieben sich die Zeit mit dem Computer und dem Internet. In einem schönen Portal gab es unendlich viele chemische Schulexperimente. Einige von ihnen hatten sich mehrere davon ausgedruckt und dann am Abend im Keller ausprobiert. Das war auf jeden Fall interessanter als das Fernsehprogramm. Franz-Joseph war auf eine einfache Methode zum Verspiegeln von Gläsern aufmerksam geworden. Auf dem Glas sollte ein hauchdünner und undurchsichtiger Überzug aus Silber entstehen, ganz genau wie auf der Rückseite eines Spiegels. Vielleicht ließen sich sein Gehstock oder die silbrigen Knöpfe seines Jacketts damit verbessern. Natürlich musste erst ein Experiment her, um die Brauchbarkeit der Methode zu testen. Beim Umsehen in seinem Zimmer nach einer brauchbaren Experimentalgrundlage fiel sein Blick auf Hans' Brille. HaHa ließ die Sehhilfe überall liegen. So manche Stunde hatten sie beide bereits mit der gemeinsamen Suche nach der Brille verbracht. Das war Glas, es war glatt und es war sofort verfügbar. Da Hans die Brille nicht bei sich hatte, benötigte er diese auch gerade nicht. Silbernitrat, Kaliumhydroxid und Ammoniak fanden sich schnell im Keller. Vor ihnen hatten zwei Chemielehrer hier gewohnt. Den Keller hatten sie bei ihrem Umzug vergessen auszuräumen - auf jeden Fall war 'vergessen' besser als 'sprengen', hatten sich die Nachmieter gesagt. Die vielen Fläschchen und den Apothekerschrank behielten sie einfach. Das Experiment war auf dem Arbeitsblatt für Schüler gut beschrieben. Schon nach kurzer Zeit war auf dem linken Glas von Hans' Brille ein silbriger Film zu sehen. Franz-Joseph setzte die Brille auf und sah im linken Glas ein Spiegelbild seines Auges. Da er das ganz lustig fand und es zusätzlich auch noch viel Spaß machte, verspiegelte er das rechte Glas ebenfalls. Hans hatte die Erfahrungswerte gesammelt, dass eine Rasur ohne Brille in einem Gemetzel endet. So setzte er morgens auf dem Weg zum Bad die Brille auf - und der Rest ist Legende in der Wohngemeinschaft.

****

Während sich die Fahrgäste mehr und mehr mit sich selbst beschäftigen, hebt der Fahrer mehrfach resigniert die Schultern. Hier war er wirklich noch nie und sein Chef ist strikt gegen Navigationsgeräte. Regelmäßig bekommen er und die anderen Fahrer des Reiseunternehmens Schulungen. Diese führt immer der Chef durch: ihm redet hier niemand hinein und schließlich weiß er alles ... er hat dafür solch spezielle Zeitschriften abonniert. Jedes Seminar endet bereits nach spätestens 15 Minuten. Einer seiner Kollegen fragt nach der Einführung neuester Technologien im Unternehmen. Die geheime Verlosung des Fragestellers vor Beginn ist bereits ein Ritual, das sie seit Jahren wiederholen. Und immer nimmt die nachfolgende Schulung den gleichen Verlauf. Nach wenigen Minuten meldet sich der Erloste zu Wort und fragt nach der Einführung neuer Technologien wie etwa von Mobiltelefonen, Navigationsgeräten und elektronischen Fahrtenbüchern.

"Du Chef, sag' mal, mit einem Handy wäre ich doch immer erreichbar, wenn Du mich brauchst. Dann musst du nicht erst Heinz zu mir nach Hause schicken. Was könnten wir für Zeit sparen."

Noch besser funktioniert "Chef, ich hab' gehört, dass man mit einem Navigationsgerät immer gleich ans Ziel gelangt. Wenn wir uns nicht mehr so häufig verfahren, dann sparen wir bestimmt viel Zeit und auch Diesel."

Auf diese Frage folgt ausgedehnte Ruhe. Im Raum wird es ganz still und alle sehen gespannt den Chef an. Dieser blickt erst traurig in die Runde und fragt dann ganz leise und aus einer spürbaren, tiefen Depression heraus "Ja wollt ihr euch denn euren letzten Rest Hirn verstrahlen? Ihr wisst doch, dass die Strahlung aus diesen Dingern das intuitive Richtungsbewusstsein des Benutzers zerstört. Die polen euch komplett um. Am Ende muss ich euch noch wegen Blödheit entlassen." An diese Ausführungen schließt sich dann ein etwa fünfminütiger Vortrag über die Gefährlichkeit von Elektronenstrahlen an. Den Abschluss bildet die Vorführung des mit Aluminiumfolie ausgeschlagenen Filzhutes, den er tagtäglich (wahrscheinlich auch in der Nacht) trägt. Dann verlässt er mit schlurfenden Schritten den Raum. Dabei hängt alles an ihm: Kopf, Schultern, Arme, Hemd und Hose: die visuelle Inkarnation der vollständigen Resignation. Etwas später wird ein Sixpack Bier - natürlich alkoholfrei - auf den Tisch gestellt und alle stoßen auf die lehrreiche Schulung an.

In diesem Augenblick, mitten auf der Kreuzung, ist dem Busfahrer die Paranoia seines Chefs egal und der Spaß der vergangenen Schulungen vergessen. Abwechselnd blickt er die drei möglichen Straßen entlang. Der Reiseleiter tritt hinter den Fahrer.

"Du, sag 'mal, warum hältst du hier eigentlich? Ich kann den Gasthof gar nicht sehen."

Die Antwort auf seine Frage kennt er. Trotzdem, er muss diese Frage stellen. Manchmal müssen Dinge gesagt werden, auch wenn sie überflüssig sind. Auch der Fahrer kennt die Antwort. Da diese ihm peinlich ist, stellt er nur eine Gegenfrage.

"Hmm, hast Du ein Verkehrsschild oder einen Wegweiser gesehen?"

Der Reiseleiter ist wegen der Bestätigung seines Verdachtes ärgerlich. Seine Miene verfinstert sich und er antwortet schneidend.

"Außer dem Brett vor deinem Kopf habe ich hier keine Hinweise gesehen. Ich mache das nun schon seit über zehn Jahren mit euch. Jedes Mal verfahrt ihr euch. Ist das Methode?"

"Mann, was soll ich denn machen. Wir stehen nun einmal hier und irgendwie muss eine Entscheidung getroffen werden." Der Busfahrer geht davon aus, dass nicht er die Führung hier hat und deshalb auch keine Entscheidungen treffen muss.

Dem Reiseleiter wird das zu dumm. Er entscheidet über die Alternativen durch Abzählen "hier-geht-es-zum-rast-hof". Bei jeder Silbe zeigt er mit der Hand auf einen der drei Wege. Das 'Handpendel' schwenkt von links nach rechts, wieder nach links und nochmals nach rechts und bleibt in der Mitte stehen. Er zeigt auf die Straße, die der, auf der sie gekommen sind, direkt gegenüber liegt.

"Also fahren wir geradeaus weiter!" stößt er, immer noch ärgerlich hervor. Er weist mit der ausgestreckten Hand von vorn "Da hast du deinen Wegweiser!"

Die Gäste haben sich im hinteren Teil des Busses 'gebündelt' und veranstalten einigen Lärm. Er hat das Gefühl, dass er in diesem Augenblick nicht die perfekte Kontrolle über die Situation hat. Die Richtungsentscheidung hat ihn zusätzlich verunsichert. So greift er sich das Mikrofon mit einem entschlossenen Schwung und beginnt mit seiner Ansprache.

"Meine Damen und Herren, herzlich willkommen auf unserer Erkundungstour in die Weiten der Mark Brandenburg, deren kulinarische Tiefen und die Erlebniswelt des Shoppings. In wenigen Minuten werden wir einen gemütlichen Landgasthof erreichen. Dort führe ich ihnen bei feinstem Kaffee und köstlichem Kuchen die neusten Errungenschaften der Technik für die moderne Küche vor. Sie werden begeistert sein vom Ambiente, dem Konditor und den Fortschritt lieben lernen. Sehen sie dort links lichtet sich bereits der Wald und ein erhabener See, der im tiefen märkischen Blau erstrahlt ..."

Während er spricht, verteilen sich die Reisenden langsam wieder auf ihre Sitze. Der Bus ruckt mit laut stöhnendem Motor wieder an und alle bewegen sich in die von ihm gewiesene Richtung. Perfekt: die totale Kontrolle ist auf seiner Seite. So mag er es. Das ist die Grundvoraussetzung für eine tiefe Manipulation der Gäste einer Kaffeefahrt. Auf diese Weise bekommt er sie in die Trance eines Kaufrausches. In Gedanken sieht er bereits die montägliche Abrechnung seiner Provisionen vor sich.

"... Ich überlasse sie jetzt bis zur Ankunft an unserem Ziel, dem idyllischen Landgasthof, ihren Eindrücken. Lassen sie sich verzaubern von der märkischen Märchenwelt und genießen sie die letzten Minuten der Fahrt."

Ruhe, vollkommene Stille beherrscht den Bus. Alle Reisenden starren fasziniert die Bäume im Wald an, die mit einer magischen, jährlich wiederholten Kraftentfaltung grüne, chemische Synthesezentren entstehen lassen. Ja, so mag er seine Arbeit. Er hat das Sagen - er hat die Macht. Dieter Dorsch ist 'freischaffender Propagandist'. Die korrekte Bezeichnung seines Berufes ist eigentlich Unterhaltungskünstler oder Entertainer. Seit vielen Jahren werden seine unendlichen Bewerbungen für Fernseh-Shows mit einer ihn nervenden Penetranz abgelehnt. Selbst die größte Pleite-Show des staatlichen Fernsehens hat ihn nicht haben wollen und stellt lieber den Betrieb ein, ohne durch ihn saniert zu werden. Nachdem er mit Auftritten in Diskotheken erwachsen geworden war, fiel ihm die Wahl seines Berufes nicht schwer. Als unübertrefflichen Bonus gab es vom ersten Tag an einen vernünftigen Verdienst. Er musste keine Lehrjahre und kein Lehrgeld über sich ergehen lassen. Leider war die große Zeit der Diskotheken bald beendet. Das Geld wurde knapper und er musste sich nach neuen Verdienstmöglichkeiten umsehen. Ein kleines märkisches Reiseunternehmen in seiner Nachbarschaft war der Anker der nächsten Jahre. In diesem, mit dem er heute noch Kaffeefahrten durchführt, wurde er Reiseführer mit Komplettbetreuung. Die ersten Jahre waren nahezu perfekt. Ununterbrochen war er auf dem Weg über die Alpen immer wieder führte er große Gruppen amüsierwütiger Damen in das quirlige Norditalien. Es war sein Paradies. Lange trauerte er diesem nach, denn auch aus ihm wurde er vertrieben. Auf einer der Fahrten stieß der Reiseunternehmer mit einer Laterne zusammen. Nein, nicht mit dem Bus. Eine durchzechte Nacht in Verona und der Zusammenstoß mit einer schönen, gusseisernen Laterne auf der 'Piazza Delle Erbe' erzeugten nicht nur äußerlich eine Delle in dessen Kopf. Seit diesem Tag verweigert er sich jeglicher technischer Neuerungen und trägt zur Vorsicht seinen präparierten Filzhut. Da seine Busse immer altertümlicher wurden, wurden auch die Reisebuchungen weniger und blieben bald vollständig aus. Somit hieß es für Dieter wieder suchen und umlernen. Schneller Erfolg war ihm mit Strukturvertrieb und Kaffeefahrten beschieden - vorübergehend. Auch diese Zeiten sind vorbei, zumindest die Hochzeit. Zu viele Fernsehberichte halten potenzielle Gäste und Käufer von Buchungen ab. Bereits im Sommer 2009 kam ihm ein Zufall zu Hilfe, der ein weiteres Betätigungsfeld für ihn offenbarte. In den turbulenten Monaten vor einer Wahl fehlt es in jeder Partei an Wahlkämpfern. So kommt es, wie es kommen muss: es werden Söldner gesucht und gedungen. Er liebt Wahlen. Sie garantieren ihm mehrere Monate ein üppiges, zusätzliches Einkommen. Bei den letzten Landtagswahlen in Brandenburg wurde er von einem Politiker einer großen Volkspartei angesprochen. Der war auf sein Talent aufmerksam geworden. Dessen Frau hatte ihn zu einer Kaffeefahrt überredet. Zuerst dachte er an eine Werbung. Doch nein, in der Partei selbst wollte ihn niemand haben. Das ist mehr oder weniger ein elitärer Verein, da wird nicht jeder aufgenommen. Auch spenden sollte er nicht. Er hört noch heute die Worte "Geld, das benötigen wir nicht. Wir haben genug davon. Ganz im Gegenteil, wir würden sie bezahlen, wenn sie uns helfen. Einzige Voraussetzung, sie senden uns keine Rechnung." So wurde er zum gut bezahlten, freischaffenden Propagandisten. Das Ende der Wahl kam viel zu schnell. Die nachfolgenden Jahre bescherten nur wenige und außerdem magere Aufträge für Gastspiele in angrenzenden Bundesländern. Erst 2013 wurde wieder zu einem 'fetten Jahr' für Propagandisten. Es gab viele, lohnenswerte Aufträge für die Bundestagswahl. Die Kanzlerfrage beschäftigte viele Bürger - damit auch ihn. Und nun haben wir 2014 - Europawahl, Landtagswahl, Kreistageswahlen, Kommunalwahlen - er hat sogar Aufträge abgesagt. Das ist ihm noch nie passiert. Um so viele Aufträge wie möglich ausführen zu können, wurde er kreativ tätig. Sein neuestes Produkt sind Kombiveranstaltungen. In einer solchen befindet er sich gerade. Zuerst findet eine Kaffeefahrt statt. Er reist dann nicht mit den Gästen ab, die Rückreisen sind so und so nur langweilig. Er bleibt gleich in der Lokalität und führt eine Wahlveranstaltung durch. Während des Frühjahrs und Sommers beschäftigt er einen Assistenten. Dieser organisiert die Termine, beschafft das Material, sowohl für Kaffeefahrten als auch Wahlreden, lässt plakatieren, kassiert die Honorare und bucht die Lokalitäten. Auf der Silvester-Party, zwischen den Jahren 2013 und 2014, traf er einen Unternehmens- und Gründerberater. Die spektakuläre Ich-AG gibt es zwar nicht mehr, dafür aber jede Menge andere staatliche Förderungen für Gründer. Deshalb gründet er. Mit einigen kleinen, kreativen Manipulationen seitens seines Gründungsberaters, optimieren er und der Berater ihre Einnahmen. Aus verschiedenen Programmen (oder Fördertöpfen) kommt Dieter zu etwas mehr als 50.000 Euro auf seinem Geschäftskonto, einem Assistenten, Marketing und vielen neuen Bekanntschaften in einem Netzwerk voll mit wahnsinnig kreativen Ebenfallsgründern. Insbesondere die Gespräche mit Behörden und Landesbank faszinieren ihn. In jedem stellt er fest, dass diese selbst extrem viel 'freischaffende Propaganda' benötigen. Er ist auf eine Goldader gestoßen und glaubt fest, wieder in das Paradies für Entertainer eingelassen worden zu sein.

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Der Bus verlässt den Wald. Felder mit grünenden Getreidesprossen wechseln sich mit großen Flächen von blühendem Raps ab und säumen die Allee. Die ersten Häuser einer Ortschaft sind zu erkennen. Im Dunst des sonnig warmen Frühlingsnachmittags erscheinen sie noch undeutlich. Die vielen Pollen der Kiefern haben die Luft eingetrübt und behindern die Sicht erheblich. Der Fahrer muss mehrfach den Scheibenwischer betätigen, um den gelben Staub von der Frontscheibe zu wischen. Die Umrisse der Häuser werden nur langsam deutlich. Dieter kann sich nicht erinnern, sie jemals gesehen zu haben. Er fremdelt mit jedem Meter mehr, den sie sich auf den Ort zubewegen. Gespannt fixiert er das Ortsschild. Er kann den Augenblick kaum erwarten, in dem er die Schrift darauf lesen kann. So fiebert er dem Augenblick der Erkenntnis entgegen: 'Hoffentlich haben wir uns nicht verfahren, hoffentlich-hoffentlich ist das der Ort, den mein Assistent gewählt hat.' Endlich, ganz plötzlich, wird die Schrift schlagartig lesbar. Ein leichter Windstoß hat eine dichte Wolke Blütenstaubs, die die Erkenntnis behinderte, entfernt: 'Ranzlow'. Er hat von diesem Ort noch nie gehört. Liegt das noch im Land Brandenburg, in Deutschland? Ranzlow ist auf keinen Fall der Name des Ortes, in dem sein Assistent den idyllischen Landgasthof reserviert hat und der das Ziel ihres Ausflugs ist. Kurz darauf fallen ihm die zwei zusätzlichen Schilder auf, die unter dem Ortsschild angebracht sind. Auch sie sind gelb und schwarz umrandet. Die Schrift auf ihnen ist kleiner und er muss noch einige Sekunden warten, bis er sie lesen kann. Auf dem mittleren Schild steht 'Achtung! Einreiseverbot für Adlige und Adelsexperten! Zuwiderhandlungen werden mit der Blaublutprobe geahndet.' Bevor er überhaupt einen Gedanken in die Richtung des textlichen Inhaltes entwickelt, kann er das untere Schild lesen 'Propagandieren ist im gesamten Ort verboten. Einreiseverbot für Propagandisten.' Das beunruhigt Dieter Dorsch jetzt wirklich. Er nennt sich nicht umsonst 'freischaffender Propagandist' - er ist ein solcher. Darüber muss er nachdenken und das benötigt Zeit. Durch ein lautes, hastiges "Achtung: HALT!" erschreckt er den Fahrer und veranlasst ihn zu einer Notbremsung, die direkt vor dem Ortsschild endet. Natürlich gibt es in dem alten Bus noch keine Gurte. Zwei Passagiere stehen im Gang und werden umgeworfen. Beide tätigen gleichzeitig den Ausspruch "Mist!" und bleiben einfach im Gang liegen. Keine Aktion ist besser als noch einmal umfallen. Außerdem sind an der Decke der Fahrgastkanzel so hübsche, alte, mit Messing verkleidete Lämpchen angebracht. Auf dem Rücken liegend ist es eine Freude, diese zu betrachten. Ihre klassisch einfache Ausfertigung lässt die Mühsal des Tages vergessen. Das denkt zumindest Hans Haansens, der einer der Liegenden ist. Die abrupte Bewegungsänderung, das laute Quietschen der Bremsen und letztlich der Geruch nach verbranntem Gummi lassen alle Reisegäste verstummen. Die Sitzenden blicken, wie auf Verabredung, zuerst zum Rufer und dann zum Bremser. Ein Außenstehender könnte sie für Puppen halten, die auf die Polster der alten Bänke geschnallt sind. Dieter Dorsch ist der Puppenspieler und einziger Lebender in der Szenerie. Er hastet zur vorderen Tür des Busses, reißt sie auf und springt, ohne auf die Stufen zu achten hinaus. Zwei Schritte weiter und er steht direkt vor dem Schild. Seine Puppen-Fahrgäste beobachten ihn schweigend dabei, wie er offensichtlich durch Hypnotisation versucht, das unterste Schild verschwinden zu lassen. Da, wie jedes Schulkind schon weiß, Magie nur im Mittelalter funktioniert hat und heute die geheime Zutat, aus der sie hauptsächlich besteht, vergessen wurde, bleibt das Schild einfach hängen. Nur in der Helligkeit verändert sich sein Gelbton etwas - durch den Schatten, den der Reiseleiter auf das Schild wirft. Dessen Gedanken verknoten sich. Soll er die Inschrift des Schildes ernst nehmen? Was passiert bei Zuwiderhandlungen? Ist er damit persönlich gemeint? Woher wusste jemand, dass er sich genau hierher verirren würde? Ist das Schild vielleicht ein Relikt aus Vorwendezeiten und heute gar nicht mehr gültig? So viele Fragen und keine Antworten. Die Kontrolle der Situation ist von ihm auf irgend jemanden Anderen übergegangen. Und den kann er nicht erkennen. Insgesamt eine schreckliche Situation. Entscheidungen müssen her: nur so gewinnt er die Kontrolle wieder. Er muss das Risiko eingehen und mit dem Bus in den Ort fahren. Hoffentlich ist dort der idyllische Landgasthof, in dem sein Assistent den Saal reserviert hat. Schließlich geht es um ein hohes Honorar, da in dem Landgasthof viele hochkarätige "Multiplikatoren" übernachten und auf seine Wahlkampfveranstaltung warten. Diese soll pünktlich nach Abreise der Kaffeefahrtgäste beginnen und ein voller Erfolg werden. Dieter besinnt sich, ein Ruck geht durch seinen Körper. Wie eine gespannte Feder schnellt er um 180-Grad herum und springt mit einem kurzen Satz in den Bus. Die Tür fällt hinter ihm laut polternd in das Schloss. "Weiter!" mehr bringt er nicht hervor. Die innere Spannung hat all seine rhetorischen Talente verdrängt.

Die ersten Gebäude von Ranzlow, wenn man auf dieser Straße in den Ort fährt, gehören zum LPG-Hof. Natürlich ist das keine Genossenschaft mehr, sondern entsprechend der Anordnungen der demokratischen Staatsführung des geeinten Deutschlands handelt es sich jetzt um eine GmbH: Landwirtschaftliche Produktions-GmbH 'Thomas Müntzer'. Den alten Ehrennamen wollte niemand ablegen: was sollte an einem katholischen Geistlichen, der zum Revolutionär wurde, verkehrt sein? Bei der Anmeldung des Unternehmens hatte ein Sachbearbeiter des Handelsregisters schriftlich und besorgt nachgefragt, ob der Namenszusatz vielleicht ein Versehen sei. Der LPG-Chef, Hans-Jürgen Pfanntiegel, hatte nur knapp durch Susanne Pluster, seine Sekretärin, antworten lassen, dass er schon nicht vorhabe, die Anmeldegebühr in alten 5-Mark-Scheinen der DDR mit dem Konterfei Thomas Müntzers zu bezahlen: natürlich ebenfalls schriftlich. Hier, an der Ortseinfahrt, befinden sich nur die Gebäude des Technik-Hofes mit den Werkstätten und Garagen. Stallungen, Scheunen, Silos, ... sind über den gesamten Ort verstreut. So wie sich das für ein Dorf, das von der Landwirtschaft lebt, gehört. Hinter dem Technik-Hof folgen an der Straße sofort die Stallungen der glücklichen Kühe, die Bauer Schabolske betreut. Es ist der Nachmittag eines warmen Samstags. Friedrich Krüger hat seine Schicht in der Werkstatt beendet. Er steht in der Sonne und wärmt sich nach getaner Arbeit in den noch kühlen Hallen auf. Zwei Traktoristen haben ihre Maschinen ramponiert. Bei dem einen Traktor war das Schutzblech über dem linken Vorderrad verbeult. Einfache Reparatur: Schutzblech entfernen - und fertig. Der Traktor fährt auch ohne dieses Blech. Nach allgemeiner Ansicht aller Techniker war es nur unnützer Zierrat. Das andere Problem bereitete etwas mehr Arbeit. Ein Stahlseil war mehrfach um die Fahrerkanzel gewickelt und verdrillt. An dieser ließen sich weder Türen noch Fenster öffnen. Der Fahrer musste das Dach aus Zeltbahn von innen abknöpfen, um seinen Arbeitsplatz verlassen zu können. Natürlich vollführte er das auf dem Freiplatz vor den Garagen. Alle Maschinisten standen im Kreis um das Fahrzeug und feuerten ihn mit Beifallsrufen dabei an. Ganze zehn Minuten benötigte er, bis er schnaufend den betonierten Boden erreichte. Beide Traktoristen gaben an, vom Ghostrider verfolgt worden zu sein: eindeutig die Standardausrede in Ranzlow. Er würde ja gleich erfahren, ob beide die Wahrheit gesagt haben. Der Ghostrider holt ihn jeden Samstagnachmittag von der Schicht vor dem Technik-Hof ab und nimmt ihn bis zum Kulturhaus, in die Mitte des Ortes, mit. Unterwegs kann er Krüger die letzten Problemchen seines Dienstfahrzeugs schildern, damit dieser sich auf das entsprechende Tuning zu Beginn der folgenden Woche vorbereiten kann. Heute hat er während seiner Wartezeit Unterhaltung durch die Ereignisse am Ortseingangsschild. Fasziniert beobachtet er den rasanten Stopp des Busses und den akrobatischen Ausstieg eines Fahrgastes. Dem ist offensichtlich gar nicht wohl. Wenig später hält der kleine Reisebus neben ihm. Als der Motor erstirbt, laufen Wellen von Vibrationen über die linke Seitenwand aus grün lackiertem Blech. Die Dellen und erste Rostflecken wackeln dabei scheinbar vor einer grünen Wand. Wieder steigt der Reisende aus, der schon so intensiv das Ortsschild betrachtet hat.

"Wo soll's denn hingehen?"

Krüger ist neugierig wie immer und spricht den Mann an, bevor dieser seine Frage stellen kann. Das er fragen wird, ist deutlich zu sehen. Bereits als er auf Krüger zugeht, sind seine buschig schwarzen Augenbrauen nach oben gezogen und die Augen weit aufgerissen. Sein Gesicht ist ein einziges, lang gezogenes Fragezeichen. Er erinnert stark an diesen einen bayrischen Politiker aus den Zeiten der Wende.

"Hallo guter Mann, wir sind auf der Suche nach dem idyllischen Landgasthof ihres Ortes." ist die gestelzte Antwort von Dieter Dorsch. Immer noch leicht aus der Fassung gebracht, versucht er durch die betonte Förmlichkeit wieder seine gesamte Umwelt unter Kontrolle zu bekommen.

Krüger kennt nur das Kulturhaus - idyllischer Landgasthof ist wohl die neuhochdeutsche, förmliche Bezeichnung für dieses. Da er so und so auf dem Weg dorthin ist, lädt er sich in den Bus ein "Kein Problem, ich komme mit und bringe euch wieder auf den rechten Weg."

Da niemand Krüger kennt, lassen sie ihn ohne Argwohn einsteigen. Krüger sieht beim Einsteigen in den Bus sofort das Mikrofon des Reiseleiters. Ein schneller Griff danach und schon hat er es in der Hand und den kleinen, schwarzen Schalter am Schaft nach oben geklappt. Ein leichtes Brummen aus den Lautsprechern in der Deckenverkleidung des Fahrgastbereiches signalisiert ihm die Funktionsfähigkeit der Sprechanlage: welch ein Spaß am Samstagnachmittag!

"Liebe Touristen, willkommen in Ranzlow. Ich bin Friedrich Krüger und werde sie nun in die einzigartigen Geheimnisse unserer Gemeinde einführen. Ähhm Fahrer, los geht's und da vorn, gleich 'mal links um die Ecke."

Die niederfrequenten Vibrationen des startenden Motors lassen das Gefährt erbeben. Langsame, starke Schwingungen wandern vom Motorblock über den Rahmen bis zu den Sitzbänken durch den gesamten Bus. Als sie auf die Reisenden übertragen werden, schlagen deren Zähne so stark aufeinander, dass deren Klappern zusätzlich im Innenraum zu hören ist. Es mischt sich in das Klirren der Scheiben und das asthmatische Röcheln des Motors. Alle Insassen halten sich fest, da das Schütteln der Stöße des Zündvorganges sie ihre nahe Umgebung nur verschwommen wahrnehmen lässt. Mit einem mächtigen, befreienden Hustenanfall verschafft der Motor sich Luft, erwacht zum eigenständigen Leben und beendet das Erdbeben. Eine gewaltige Wolke, größer als der Bus selbst, von nur teilweise verbranntem Diesel verlässt das Auspuffrohr an der Seite des Fahrzeuges. Leichte Windböen verteilen die schwarzen Rußflocken und vermischen sie mit den gelben Kiefernpollen, die als dichte Dunstschleier die Luft durchziehen. Im Ergebnis entsteht ein grünlich, klebriger Belag, der sich sofort von außen an die Scheiben des Busses und die drei Schilder des Ortseinganges heftet. Währenddessen versucht der nun vollkommen aus der Fassung geratene Reiseleiter Krüger das Mikrofon zu entwenden. Der hat natürlich damit gerechnet und läuft mit dem Funkmikrofon langsam den Mittelgang hinunter. Dieter stolpert mit ausgebreiteten und vorgestreckten Armen hinter ihm her. Sein gestammeltes "uhhähh gib mir - her damit - hrrr" lässt die ersten Mitreisenden bereits eine Zombieepidemie befürchten.

"Nun haben wir Schabolskes Stallungen erreicht. Die Kühe hier stehen unter besonderer Aufsicht der Europäischen Union, seit es vor zwei Jahren einen bedauernswerten Unfall mit einem Blitz gegeben hat. So und jetzt wieder rechts um die Ecke. Da ist schon der Feuerlöschteich mit der Insel und dem Angler zu sehen - ein echter Angelsachse. Hier fand 2012 der Überfall der Mafia auf die Insel statt. Die Sizilianer wollten hier wohl einen Stützpunkt errichten."

Krüger hat das Tischchen am Ende des Ganges erreicht. Er steht jetzt direkt vor HaHa und Hybel, die daran sitzen und ihn erwartungsvoll anstarren. Der Zombiereiseleiter hat ihn fast erreicht. Krüger dreht sich langsam um, darauf bedacht, dass Dieter immer in seinem Rücken bleibt. Dabei hält er das Mikrofon weit vor sich. Und schon ist Krüger wieder auf dem Weg in den vorderen Teil des Busses, den Reiseleiter weiter im Schlepp, mit energischen "... gib her - will endlich haben..."-Rufen.

"Werte Reisende, sehen sie bitte rechts aus dem Fenster. Dort ist unsere Kirche zu sehen. Der Turm wird auch als Minarett bezeichnet, da er seit über 30 Jahren eine Lautsprecheranlage beherbergt. Der Pfarrer überträgt damit sonntags seine Ansprache in den ganzen Ort. So Herr Fahrer, jetzt bitte wieder nach links, zum Bahnhof."

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Nach dreißig Minuten Kreuzundquerfahrt durch den Ort erreichen sie endlich dessen Mitte. Der Bus hält vor einem großen Haus. Auf ein hohes Kellergeschoss ist eine einzige Etage gesetzt. Die wenigen und unregelmäßig angebrachten Fenster geben ihm ein unfertiges, provisorisches Aussehen. Der Überstand des mit Teerpappe gedeckten Daches ist sehr gering, auch keine Meisterleistung des Architekten. Es ist das übliche, flache Dach von Zweckbauten. Nichts an dem Gebäude ist schön. Als einzige Besonderheit fällt sofort auf, dass zwei Treppen und Eingänge in es hinein führen. Genau in der Mitte der Straßenfront gibt es eine große, zweiflügelige Tür, zu der eine breite Freitreppe führt. Rechts daneben, im Abstand von etwas über fünf Metern, ist eine zweite Tür mit einer Metalltreppe davor. Die zweite, viel kleinere Tür scheint nachträglich angebracht zu sein. Der Putz um die Zarge ist mehrfach nachgebessert. Auch wenn der Einbau schon viele Jahre zurückliegt, sind die dunkleren Flecken der Ausbesserungen immer noch deutlich zu erkennen. Die Fenster haben offensichtlich noch nie Gardinen gesehen und sind mit kleinen, gelblich ausgeblichenen Lampions in der Form von Kürbissen verziert. Offensichtlich die Dekoration eines Erntefestes vor langer Zeit. Das Ganze ist ganz eindeutig ein Zweckbau aus dem Übergang zwischen den 60-er und 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: überdimensioniert, praktisch, schmucklos. Nicht jedes Mitglied der Reisegruppe hat bereits einen idyllischen Landgasthof besucht. Trotzdem wissen alle sofort, dass ein Solcher anders aussieht. Zwei grundlegende Faktoren sind jedoch erfüllt. Sie befinden sich auf dem Land und das ist ein Gasthaus. Fehlt eigentlich nur das 'idyllisch'. Aus dem Inneren der Gaststätte ist dies so und so nie zu erkennen. Also kann auch darauf verzichtet werden. Diese Überlegung geht dem Busfahrer durch den Kopf. Ja, er hat sich wieder einmal verfahren. Und ja, er weiß wieder einmal überhaupt nicht, wo sie sich befinden. Aber sie stehen vor einem Gasthaus auf dem Lande. Das reicht ihm, um seine innere Ruhe wieder zu finden.

Dieters Stimmung wechselt zwischen Depression, Wut und hysterischen Lachanfällen. Die Wechsel vollziehen sich immer heftiger im Abstand von wenigen Sekunden. Dabei zucken seine Arme wild umher. Die Umstehenden lassen vorsichtig einen größeren Abstand zu ihm entstehen. Er ist so sehr mit seinen Stimmungswechseln beschäftigt, dass er kein Wort hervor bringt. Was soll er auch sagen? Die Kontrolle der Situation, ja der gesamten Angelegenheit, ist ihm komplett entglitten. Ein Zustand, der ihm sichtlich Schmerzen bereitet. Hans Haansens legt ihm schwer eine Hand auf die Schulter. Dieter fühlt, wie durch die belastende Berührung alle Mühsal und Last des gesamten Universums auf ihn übergeht. Sie beschweren seinen Geist, seine Arme, seinen Oberkörper, ... In ihm siegt die Depression über andere Gemütszustände und er wird ruhig.

"Ja, die Welt ist bis zum Horizont angefüllt mit Problemen und beklemmenden Erfahrungen."

"Ich dachte immer, da sind nur kleine, fluffige Marshmallows in unterschiedlichen Farben, die die Welt ausfüllen."

Franz-Joseph Hybelmaier, der direkt neben den beiden Depressiven steht, kann sich dieser Antwort nicht enthalten.

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"Ist das Haus dort überhaupt geöffnet? Was ist das denn überhaupt? Ein idyllischer Landgasthof ist das bestimmt nicht."

"Jo nöö, das ist es nicht - und doch ist es so etwas - so in die Richtung: das ist unser Kulturhaus."

Franz-Joseph sieht beklommen die Treppe zum Kulturhaus entlang und dann auf die Eingangstür.

"Bekommen wir dort Kaffee und Kuchen?"

"Heute wohl eher nicht. Aber ein Freibier und Mettbrötchen gibt es auf jeden Fall."

Damit beendet Krüger das Gespräch und geht über die Freitreppe zur größeren Tür hinauf. Die Reisegesellschaft folgt ihm langsam. Am Bus bleibt Dieter Dorsch allein zurück. Er hat schwere, düstere Vorahnungen bezüglich des vollständigen Ausbleibens seiner Provisionen. Der wiederholte Kontrollverlust hat seine Tagesform negativ beeinflusst und ihn in eine depressive Stimmung versetzt, aus der er sich noch nicht wieder befreit hat. Am Ende folgt auch er. Vielleicht lässt sich ja doch noch etwas davon retten.

Da alle Krüger folgen, verpassen sie, wie wenige Minuten später ein rostroter Traktor über den Platz scheppert, poltert und schlingert. Der Anhänger, der ihm folgt, ist leer. Bei dem Hopsern, die er unfreiwillig ausführt, springt er ab und zu einige Zentimeter zur Seite. So kommt er dem Reisebus zu nahe und hinterlässt in der linken Seite eine weitere Andenkendelle. Dabei zieht er mit einem lauten Kreischen einen langen Kratzer über das alte Blech und reißt am Ende den linken Rückspiegel an der Fahrertür ab. Das Seltsamste an dem Vorfall ist jedoch der Traktorist. Die Frontscheibe vor ihm fehlt. Er trägt gegen Wind, Staub und Fliegen eine alte Motorradbrille mit in der Sonne blinkender Messingeinfassung um die Gläser. Sie wird von einem breitem Gummiband gehalten, das zusätzlich seinen wirren, blonden Haarschopf bändigt. Die braune Fliegerjacke aus abgewetztem Leder und mit einem hellen Pelzkragen erinnert den Betrachter an einen Piloten der 20-er Jahre. Er scheint den Zusammenstoß mit dem Reisebus gar nicht wahrzunehmen. Stur sieht er nur gerade aus. Leichte Biegungen im Verlauf der Straße interessieren ihn offenbar nicht. So fährt er in einer leichten Kurve teilweise über den Gehweg und dann wieder auf der Straße - immer gerade aus. Nachdem der Traktor vom Platz vor dem Kulturhaus verschwunden ist, bleiben nur die schweren, schwarzen Rußflocken aus halb verbranntem Diesel in der Luft zurück, die vorher dem Auspuff in großen Wolken entwichen sind.