Geistige Bedürfnisse
Entscheidungen brauchen Ziele und Ziele einen Sinn und damit verbundene Wertvorstellungen.
Wohin soll sich mein Leben ab heute entwickeln? Wie möchte ich mit all dem umgehen, was ich bislang gelernt, erfahren und manchmal auch erlitten habe? Wer war ich? Wer bin ich? Wer werde ich sein, wenn ich den kommenden Weg ein Stück weit gegangen bin? Wie lautet mein Leitmotiv für die nächsten Jahre?
Aus den Antworten auf die geistigen Fragen lassen sich dann im nächsten Schritt eigene Gebote ableiten. Diese zu vereinbaren und sie vorzugeben ist eine der wesentlichen Aufgaben des inneren Führungsteams.
Die geistigen Instanzen, also die Abteilungsleiter der sechs Direktionsbereiche Erkenntnis, Sicherheit, Durchsetzung, Zugehörigkeit, Individualität und Empathie treffen sich zu einer Fachtagung. Sie haben den alten Weisen, ebenfalls eine universelle seelische Funktion, um die Moderation ihres Treffens gebeten.
Zunächst geht es wie immer darum, dass jeder die Anliegen und Ziele der anderen kennt und akzeptiert.
Geistige Erkenntnis: Die Philosophie, besonders die Arbeiten von Kant, wie der Kategorische Imperativ, drücken aus, um was es diesem Persönlichkeitsanteil geht: Was ist richtiges und was ist falsches Verhalten. Eigentlich geht es um Selbsterkenntnis im Sinne der Erfahrung der logischen und strukturellen Bedingungen der eigenen Existenz.
In den Geisteswissenschaften differenzieren sich die beiden Pole, Gut und Böse – Gott und Teufel. Auf beiden Seiten werden verschiedene Zweige und Hierarchien unterschieden, die mit eigenen Bedeutungen und Aufgaben auf den Menschen einwirken. Neben zum Beispiel der Kategorisierung von Engeln und Dämonen, gibt es Strukturen für zeitliche und räumliche Phänomene, durch die Inkarnationen oder hellseherische Wahrnehmungen plausibel werden. Persönlichkeiten mit einem deutlichen Bedürfnis nach geistiger Erkenntnis werden von verschiedenen Gruppen über die Jahrhunderte entwickelte Schulungs- und Erkenntniswege angeboten.
Heute bieten Philosophie und Psychologie, aber auch die Arbeiten tiefsinniger Schriftsteller Möglichkeiten, den Hunger nach geistigen Erkenntnissen zu stillen. Da es um Selbsterkenntnis geht und der Erkenntnisweg von Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen erschwert sein kann, bietet sich die Arbeit in Gruppen gleichgesinnter Wahrheitssuchender an. Die gegenseitige Reflexion, wie sie Selbsterfahrungsgruppen leisten, hilft, Licht ins Dunkle zu bringen.
Geistige Sicherheit: Um agieren und reagieren zu können, brauche ich Richtlinien des Denkens und Fühlens. Unabhängig davon, ob diese selbstgegebenen oder von anderen übernommen sind, ohne diese Gebote wäre ein innerliches Chaos vorprogrammiert. Man wüsste nicht mehr, was zu tun ist, jegliche Selbstsicherheit würde verloren gehen. Um dieser Selbstsicherheit willen, gilt es alle Gefahren abzuwenden, die das Selbst bedrohen.
Die Angst vor Angriffen gegen die geistige Existenz symbolisiert sich zum Beispiel in Ideen, dem Teufel die eigene Seele zu verkaufen oder von Dämonen besessen werden zu können.
Es gibt verschiedene Ansichten davon, was gefahrvoll werden und wie man sich oder seine Glaubensgemeinschaft schützen kann. Die Vorstellung eines Heiligen Krieges gegen die Ungläubigen gehört dazu. Man muss sich bewaffnen mit Kreuzen oder Knoblauch oder Ritualen, um gegen die von Teufel ausgehende Gefahr gewappnet zu sein.
Einfacher ist es, sich eng mit dem ‚Guten’ zu verbinden. Auch dazu dienen Symbole und Rituale, wie das Abendmahl, das regelmäßige Gebet und der Besuch von Messen und Gottesdiensten. Ich will unter Gottes Obhut sein und dass Woche für Woche konkret erleben – vielleicht im Hause Gottes.
Der Sicherheitsanteil liebt verlässliche Wiederholungen und Strukturen. Wesentliche Bedeutung für Persönlichkeiten, denen die geistige Sicherheit sehr wichtig ist, haben religiöse Gesetze. Die Einhaltung der von Gott den Aposteln oder dem Propheten diktierten Vorschriften und Regeln soll helfen, auf dem richtigen, sicheren Pfad zu bleiben.
Geistige Durchsetzung: Die für sich gewonnenen Handlungsziele und Handlungsrichtlinien müssen sich nicht nur im täglichen Leben bewähren, zunächst müssen sie durchgesetzt werden. Hier stehe ich, ich kann nicht anders, sagte Luther, dessen geistiger Durchsetzungsanteil sich nicht mit der Gefangenschaft kanonischer Glaubenssätze abfinden konnte.
Selbstentfaltung bedeutet, immer mehr von seinen Möglichkeiten in der Welt zu nutzen. Dazu ist nötig, selbst gegebene und von der Umgebung verstärkten Grenzen zu hinterfragen und sie dann, wenn man so weit ist, zu überschreiten.
Man kann tagtäglich neue Abenteuer erleben, wenn man Dinge ausprobiert, die man am Vortag noch für unmöglich für sich eingeordnet hatte. Zivilcourage, Aufrichtigkeit und Mut passen zu diesem Thema.
In Geistesschulen spiegelt sich das Bedürfnis nach Durchsetzung im Symbol des Weges, den man geht. Man ist unterwegs vom geistigen Schüler zum Meister. Stufe für Stufe schreitet man zügig voran. Zunächst braucht man noch die Hilfe bereits Eingeweihter. Bald aber will man sich frei machen und die geistigen Gipfel erobern. Dafür muss man bereit sein, nicht nur gegen den Teufel zu kämpfen, sondern auch den Erzengel aus dem Weg zu räumen, wenn man die Pforte zum Paradies öffnen will.
Für Menschen, die Gott als das Gute und den Teufel als Personifizierung des Bösen verstehen, muss es darüber eine Instanz geben, die beide Seiten in sich vereint, ein Prinzip des liebenden Verstehens. Der Durchsetzungsanteil drängt zu dieser Vereinigung mit dem polarisierenden Prinzip der Schöpfung. Das Nirwana gilt es zu erreichen. Das Ich hat sich im Prozess der Bewusstseinsbildung in den ersten Lebensmonaten vom Selbst getrennt. Der Durchsetzungsanteil strebt weiter, hinaus in die Unendlichkeit des geistigen Universums, bis es am Ende genau dort angelangt ist, wo der Weg einmal begann.
Geistige Zugehörigkeit: Wo kämen wir hin, wenn wir in unserem Denken und Fühlen, in unserem Glauben und unserer eigenen Lebensphilosophie alleine wären? Ich will mich auch geistig irgendwo zu Hause und verstanden fühlen. Ich brauche, gerade deshalb, weil ich mich irren kann, die Gespräche mit anderen Menschen, die sich ähnliche Ziele und ähnliche Gebote gegeben haben. Im gemeinsamen Glauben verbinden sich Menschen zu geistigen Gemeinschaften.
Das muss nichts mit Kirche oder Religion zu tun haben. Wichtig sind gemeinsame Werte, Ziele und eine Ethik, die von allen akzeptiert wird. Man kann sich zum Beispiel für die Dritte Welt, für den Umweltschutz oder für die Menschenrechte engagieren.
Die Grunderfahrung geistiger Zugehörigkeit kennen viele Menschen aus den Gottesdiensten. Es kommt deutlich zum Ausdruck im gemeinsamen Singen von Kirchenliedern, im gemeinsamen Sprechen des Vaterunsers oder des Glaubensbekenntnisses. Ein besonderer Ausdruck der Zugehörigkeit einer Gruppe zu Gott ist das Abendmahl in den christlichen Kirchen. Man kann sich Gott gemeinsam einverleiben, teilhaftig werden.
Außerhalb dieser Veranstaltungen zeigt man durch Symbole, wie dem Fisch, als Aufkleber auf dem Kofferraum seines Autos, zu welcher Gemeinschaft man gehört. Die Zugehörigkeit reinigt die individuellen Vorstellungen von privaten, aus der Erfahrung geborenen Ängsten. Sie reduziert Gedankenfehler und Irrglauben.
Jedenfalls sollte sie das. Doch gibt es auch die Tendenz, sich als Gruppe gemeinsam zu irren. Wenn sich dieses Wir-Gefühl mit der Vorstellung verknüpft, im Besitz der Wahrheit oder Vertreter des Guten auf Erden zu sein, dann besteht die Gefahr, die alle anderen Menschen dem Bösen zuzurechnen.
Während der Selbstentwicklung wird der Zugehörigkeitsanteil danach streben, die richtige Glaubensgemeinschaft zu finden. Das innere Team wird darauf achten, dass man sich nicht verirrt.
Geistige Individualität: Als Individuum suche ich geistige Unabhängigkeit. Ich brauche keine Menschen, die mir sagen, was für mich richtig oder falsch ist, im Gegenteil. Ich trage Verantwortung für mich selbst, das lässt sich auf keine Gruppe delegieren. Ich muss sagen können und dürfen, was ich denke, und sei es, aus Sicht der anderen, noch so daneben.
Wenn ich mich geistig in eine Gruppenmeinung integriere, verliere ich mich selbst, dann werde ich zum Sklaven der Allgemeinheit – denn die geistige Ausrichtung bestimmt mein Denken und Fühlen.
Selbstverantwortung setzt voraus, dass ich selbst bestimme - und nicht irgendeine Kirche oder Sekte oder Clique oder Stammtischrunde. Es geschah und geschieht so viel Unsinniges und Unmenschliches im Namen irgendeines gemeinsamen Glaubens, dass man als Mensch gar nicht anders kann, als bei sich zu sein und zu bleiben.
Wichtig ist, dass man zu seiner eigenen Mitte findet und seine Standpunkte für sich selbst begründen kann, selbst dann, wenn alle Menschen anderer Meinung sind.
Das ‚Selbst’ ist ursprünglich die erste Zelle, die sich immer weiter teilte und aus der sich Körper, Seele und Geist bildeten. Diese Urzelle ist Teil der Schöpfung und trägt das Wissen der Schöpfung in sich. Gedanklich kann man immer wieder zu diesem Kern des eigenen Seins zurückkehren.
Man kann sich diesen Ursprung als Ausgangspunkt für die Selbstentwicklung und Selbstbestimmung denken und als den Punkt, der den Menschen mit der Schöpfung verbindet. Die geistige Individualität bezieht sich auf diese innere Mitte. Von dort aus lässt sich das eigene Denken und Fühlen auf das abstimmen, was hier und heute geschieht und auf das, was man selbst in diesem Leben will.
Ich bin mir selbst gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet. Ich bin für mich das immerwährende ‚Jüngste Gericht‘. Allen anderen kann und will ich gerne antworten, warum ich etwas getan oder unterlassen habe. Mehr nicht.
Geistige Empathie:
Um Handlungsrichtlinien, Gebote und Glaubenssätze für sich aufstellen zu können, muss man sich in die Bedeutungen und Wirkungen, für sich und andere einfühlen können. ‚Ich möchte immer so handeln, dass es mir und den Mitmenschen ein Höchstmaß an körperlichen, seelischen und geistigen Wohlbefinden bringt.’
Dieses universelle Gebot strebt naturgemäß nach Frieden. Es ist Teil des Prinzips der Liebe. Man ist als fühlender Mensch immer seinen Mitmenschen, auch den Fremden und Andersdenkenden, verbunden. Daraus ergibt sich, neben den ohnehin immer gegenwärtigen inneren Konflikten, eine dauernde Auseinandersetzung mit den ‚Nächsten’: Fast alles, was wir zum Wohlbefinden brauchen, steht nur begrenzt zur Verfügung, zum Beispiel die Zeit, sich im Freundeskreis zu einem Thema zu äußern. Was ich mir nehme, steht anderen nicht mehr zur Verfügung.
Weil das so ist, sucht der Empathie-Anteil nach immer neuen Wegen aus diesen zwischenmenschlichen Konflikten zu einem Frieden zu finden, der allen dient.
Die Meditation ist ein wesentlicher Weg zur empathischen Wahrnehmung geistiger Zusammenhänge im Streben nach Frieden. Manchen Menschen ist dies so wichtig, dass sie sich zum Beispiel in ein Kloster zurückziehen, um alleine oder mit ähnlich Empfindenden diesem Bedürfnis gerecht zu werden.
Den inneren Frieden zu finden, der naturgemäß den äußeren umfasst, bedeutet, mit sich selbst eins zu werden. Das innere Führungsteam und das Selbst verschmelzen miteinander im gemeinsamen Wollen. Wenn Trennung und Zweifel als schmerzhaft erlebt werden, dann ist diese Vereinigung die Befreiung von allem Leid. Sich in Gottes Willen (dem Selbst-Willen) einzufühlen, seine Liebe oder die des Universums in sich zu spüren, sind Metaphern für empathische und erkennende Wahrnehmung der geistigen Zusammenhänge.
Identität und Credo: Die geistigen Persönlichkeitsanteile finden gemeinsam zu Antworten. Man kann sie als Identität (Ich bin ein Mensch, der...) und als Glaubensbekenntnis (Ich glaube, dass es für mich und andere vernünftig ist...) formulieren. Die selbst gegebene Identität und das persönliche Credo erlauben es, sich Handlungsrichtlinien zu geben und die Reaktionen auf andere Menschen oder besondere Situationen zu prüfen.
Ich will dieses oder jenes erreichen, weil es mir entspricht, denn ich bin...
Ich habe dieses und jenes getan oder unterlassen, denn ich glaube...
Die Fortsetzung dieser Sätze wird jeder für sich selbst geben. Es hängt von der Persönlichkeit, also den Bedürfnis-Schwerpunkten und von den Lebenserfahrungen ab, welchen Weg man gehen will. Nachdem man selbst einig ist, was warum zu tun ist, kann man wesentliche Fragen selbst beantworten – und damit selbstverantwortlich leben.
Die geistigen Aspekte der Grundbedürfnisse zu versorgen, reduziert den Hunger nach seelischer und körperlicher Nahrung. Man braucht keine Ersatzleistungen mehr. Wozu sollte ich zum Beispiel äußerlich der Größte sein wollen, wo ich mich doch selbst in jeder Hinsicht anerkenne und schätze und stolz auf das bin, was ich mache und wie ich es mache?
Menschen, die geistig tief verwurzelt sind, wirken nicht nur äußerlich gelassen. Sie wissen und fühlen sich in sich selbst sicher, zugehörig, durchsetzungsstark und unabhängig.
Wenn man in der Hektik des Alltags, im privaten oder beruflichen Treiben einmal diese eigene Balance vergisst und damit seine Gelassenheit für eine Zeit verliert, dann melden die Grundbedürfnisse mit Gefühlen dem bewussten Ich, dass es an der Zeit ist, sich wieder auf sich selbst zu besinnen.