Das Selbst bestimmt
Die mystische Hochzeit ist Sinnbild für die Vereinigung des Ich mit dem Selbst.
What would Jesus do? Solche Orientierungs- und Bewertungshilfen mögen für persönliche Entscheidungen vorübergehend nützlich sein, denn manchmal ist die Kommunikation mit dem inneren Team gestört. Häufig scheint es so zu sein, dass in diesem Direktorium die Meinungsbildung nicht gelingt. Dafür gibt es Gründe. Oft behindern Täuschungen die Zusammenarbeit in und mit sich selbst. Es liegt nahe, sich mit sich selbst auseinander zu setzen, um zu einer guten inneren Führung zurückzukehren. Diese Arbeit ist Selbstentwicklung. Sie bringt zurück zur ursprünglichen, eigenen Kraft und Urteilsfähigkeit. Diese Arbeit belohnt sich selbst, ist aber nicht einfach. Wir kommen nicht umhin, Enttäuschungen hinzunehmen, wenn wir Täuschungen beseitigen wollen.
Wer sich orientierungslos fühlt, kann entweder diesen Weg gehen, oder sich bei fremden Instanzen bedienen. Fast jede Form von Erziehung nutzt dies aus, häufig zum Nachteil der Ich-Stärke.
Irgendwann glaube ich den starken Erwachsenen, dass sie recht haben, wenn sie immer wiederholen: ‚Ich weiß besser als du selbst, Kind, was für dich gut ist.’
Ich habe mich häufig in meinem Leben verlaufen und gefragt: ‚Was soll ich tun? Darf ich meine Meinung sagen? Ist es richtig, die Karriere zu beenden? Soll ich noch länger mit dieser Frau zusammen leben?’
Diese Fragen habe ich nicht mir selbst gestellt, sondern den verinnerlichten Erziehern. Aus mir selbst heraus hatte ich ein eindeutiges Gefühl. Ich wollte in einer bestimmten Situation meine Meinung sagen. Ich wollte die Karriere und die Partnerschaft beenden. Die Intuition, die Botschaft des Direktoriums an das bewusste Ich, war bereits eindeutig.
Ich habe mir selbst nicht vertraut. Und ich habe mich nicht getraut.
Ich stellte die Fragen an gedachte Menschen oder an den gedachten Jesus, die mir wichtig waren. Ich hatte entschieden, ihnen gehorsam und klug zu dienen. ‚Nicht mein, sondern euer Wille geschehe.’
Die Fremden nahmen in mir Gestalt an.
Ich kann mir in der Fantasie jedes Wesen recht lebendig vorstellen. Irgendwann brauchen wir das Bewusstsein dafür nicht mehr. Die Interaktion mit den fremden Instanzen geschieht im Unbewussten. Wenn wir genau hinhören oder unsere Träume erinnern, erklingen die Stimmen von Erziehern, Menschen, Geistern, Engeln und. Es bildet sich ein eigenes System, das sinn- und maßgebend wird, das Ziele setzt und Grenzen festlegt.
Gedanken und Gefühle gehen von diesen fremden Instanzen aus. Aus der Angst des Vaters, die man empathisch nachvollziehen konnte, wird die eigene Angst. Die Grenzen verwischen dann, wenn wir den ‚Absender‘ des Gedankens oder Gefühls nicht mehr deutlich erkennen.
Ich habe Menschen kennengelernt, die mir mit traurigem Blick sagten, dass sie froh und glücklich sind – und es offenbar selbst glaubten.
‚Mein Mann sorgt gut für mich.’
‚Ich hatte eine schöne Kindheit.’
‚Man braucht Regeln und Gesetze. Sie geben einem Halt.’
Mag sein, doch wer ist Gesetzgeber? Es war nicht immer leicht, zwischen eigenen und fremden Instanzen zu unterscheiden. Aber, es gibt Signale, die auf das eine oder andere hinweisen.
Je mehr ich mich dem inneren Team näherte, desto einfacher wurde es, fremde Instanzen zu erkennen. Sie sprechen eine anweisende, fordernde, näselnde, verachtende Sprache, von oben herab, gerne mal anklagend, einen selbst immer für etwas bescheuert haltend. Ich begann über solche Sätze zu lachen:
‚Man braucht doch jemanden, der einem sagt, was recht ist. Ohne eine moralische Instanz, wie die Religion, würde jeder seinen dunklen Trieben folgen und wir Menschen würden uns gegenseitig zerstören!’
Manchmal rufe ich ihnen zu: ‚Glaubt Ihr, ich wäre zu blöd, mir meine eigene Ethik zu schaffen?’
Es gab und gibt zu viele, viel zu viele, politische und religiöse Fanatiker. Angetrieben von den verinnerlichten fremden Instanzen haben sie genug Unheil gestiftet an Körper, Seele und Geist – bei sich selbst und bei anderen.
Kennt jemand einen einzigen selbstbestimmten, in sich selbst ruhenden Menschen, der seine Mitmenschen bewusst angegriffen und verletzt hätte?
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Um die fremden Instanzen in sich zu entmachten, ist es sinnvoll, sie zu entlarven, ihnen die Masken von den Gesichtern zu reißen und über die von ihnen ausgehenden Gedanken und Gefühle schmunzeln zu lernen.
Das erfordert eine tiefere Ruhe und Kraft. Es ist schon gut, in solchen Auseinandersetzungen nicht alleine zu sein, die Götter an seiner Seite zu haben, sich selbst anzunehmen und sich von sich selbst annehmen zu lassen.
Zum fünften Mal traf ich mich mit dem Direktorium im alten Schloss. Heute saß ich Yussuf gegenüber. Die Direktoren hatten ihre Stühle nicht mehr an den alten Plätzen, sondern lockerer um den Tisch verteilt, hingestellt. Mir wurde bewusst, dass auch ich einen eigenen Stuhl habe, so als sei ich gleichberechtigtes Mitglied dieses Teams. Yussuf lachte mich an: ‚Das warst du immer.’
Eva Weiß rutschte nah zu mir und nahm mich in den Arm, bis mir warm wurde: ‚Du weißt doch, was geschah. Du musstest für deine Mutter und deine Geschwister da sein. Du warst noch so klein und wir haben mit dir gelitten und gehofft, dass bald alles vorbei ist. Wie sollten wir dich für das tadeln, was damals geschah?’
Ich weinte eine Zeit lang. Dann wurde ich ruhiger und spürte all ihre Zuneigung, die Liebe der Götter.
Was anderes hätte ich damals, in den frühen Jahren meiner Kindheit machen sollen, als eine Rolle zu spielen? Ich musste versuchen, irgendwie durch die Zeit zu kommen und die Menschen, für die ich mich verantwortlich fühlte, irgendwie durch die Zeit zu bringen.
Eva streichelte über mein Haar: ‚Du hast dich nicht mehr selbst gefühlt, sondern funktioniert. Die Zeiten sind lange vorbei. Jetzt bist du zurückgekehrt.’
‚In der Abgeschiedenheit von uns hast du dann deine Götzen geschaffen. Du brauchtest doch jemanden, auf den du dich beziehen konntest’, erklärte Eberhard, der Erkenntnis-Direktor.
‚What would Jesus do?’ dachte ich und Yussuf nickte. Das sei immerhin nicht die schlechteste Alternative zu mir selbst gewesen. Wenn es schlecht gelaufen wäre, hätte ich mich auf irgendwelche betriebswirtschaftlichen Größen bezogen und das goldene Kalb in mir errichtet. Eine Idee, der ich mich deutlich genähert hatte. Sie scheiterte, weil sie mein Bedürfnis nach Empathie nicht befriedigen konnte.
Jesus oder Knete, welch eine irrsinnige Wahl. Jetzt lachte ich aus vollem Herzen.
‚Logisch gesehen’, sagte Eberhard, ‚wäre es egal gewesen. Du hättest unseren Kreis so oder so als fremde Instanzen nachgebaut. Jede Religionsgemeinschaft und jeder Betrieb funktionieren nach den gleichen Regeln. Du brauchst Sicherheit und Wachstum, Zugehörigkeit und Individualität und du brauchst eine Funktion, die all diese Grundbedürfnisse moderiert.’
Das verstand ich. Man misstraut sich selbst und vertraut den Eltern, die kräftiger und klüger erscheinen. Man überträgt die eigenen inneren Instanzen auf fremde Strukturen, mit denen man sich dann stellvertretend auseinandersetzen kann. Diesen „Fremden“ überlassen wir die Bestimmung über unser Handeln, bis wir uns entscheiden, zur Selbstbestimmung zurückzukehren.
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Die Entmachtung der fremden Instanzen beginnt mit dieser Entscheidung. Es folgen in unserer Seele aufregende und manchmal kriegerische Zeiten.
Natürlich kann man so über die Welt nachdenken und fühlen, dass sich Gut und Böse als Mächte gegenüberstehen, aus denen dann der gute Gott und der böse Teufel sich personifizieren. Das hat den Vorteil, dass man die inneren Auseinandersetzungen wieder auf äußere Instanzen übertragen kann.
Wir können vermuten, es gäbe nicht-stoffliche, ätherische oder wie auch immer gestaltete Wesen jenseits des physikalischen Zeit-Raum-Kontinuums. Der Glaube an Engel und deren Widersacher, oder die Hoffnung auf einen Heiland, für den man sich als geistiger Krieger engagiert, kann von eigener Verantwortung und Schuld befreien.
Diesen Verlockungen gilt es zu widerstehen, wenn wir den Weg zu uns selbst erfolgreich zu Ende gehen möchten. Auf der seelischen Wanderung zur Schatzkammer, zu dem Ort, an dem sich das Wasser des Lebens befindet, gibt es viele Dämonen, Elfen, Feen, Zauberer, Hexen, Zwergen und Riesen.
Über die Jahre haben sich die selbst geschaffenen Trauminstanzen in vielen alltäglichen Reaktionen, Gedanken und Glaubenssätzen festgesetzt. Sie verschwinden nicht einfach, weil wir es für richtig halten. Die Idee des Heiligen Krieges, die Verteidigungsschlachten gegen die fremden Eindringlinge und viele andere Geschichten aus der Sagen- und Märchenwelt sind alte Metaphern. Science-Fiction und Fantasie-Geschichten oder Filme nutzen die Erinnerung daran, vor langer Zeit einmal frei gewesen zu sein und die tiefe Sehnsucht, die Fremden endlich zu entmachten.
Um nicht dem Zauber der Anschauung zu erliegen, musste ich mir immer wieder bewusst machen, dass die inneren Trugbilder in meiner Seele stattfinden – und keine externen Wesen sind. Sie sind Spiegelungen und die Spiegel lassen sich zerschmettern.
Der eigentliche Kampf findet in mir statt. Meine Verbündeten hatte ich im Sitzungssaal des alten Schlosses gefunden. Als geistige Krieger sind Odin und seine Götter schon vor Urzeiten verstanden worden. Gemeinsam verfügen sie über Klugheit und Einfühlungsvermögen, Listenreichtum und geheime Waffen, über Wachsamkeit und einer unbändigen Kraft. Das Selbst gibt als oberste Instanz Ziel und Strategie vor.
Die himmlischen Heerscharen und die Kampfeinheiten der fremden, verinnerlichten Instanzen formieren sich zur Schlacht. Das mag heftige Träume geben. Manchmal wacht man des Morgens wie gerädert auf. Aber, man ahnt, dass etwas Wichtiges geschehen ist.
Im Sitzungssaal des alten Schlosses haben diese zentralen Persönlichkeitsanteile darauf gewartet, endlich den Kampf beginnen zu dürfen. Wer sollte sie aufhalten können? Das früher noch ängstliche, von den fremden Instanzen belogene und betrogene Ich wird sich, nachdem es diese innere Dynamik erkannt hat, nicht mehr selbst in den Weg stellen.