Die Schatzkammern
Ali Baba konnte mit dem Spruch ‚Sesam, öffne dich‘ durch das Felsentor in die Schatzhöhle der Räuber gelangen. Die Schätze der Seele liegen in unseren Erinnerungen: ‚Geschichte, öffne dich‘.
Wenn Einigkeit darüber herrscht, wie das Ziel aussieht, sich anfühlt, klingt, schmeckt, riecht, bewegt und strukturiert ist, wird man verschiedene Wege finden, die vom aktuellen Standort genau dorthin führen. Am Ende wird man dort sein, wo man sich rundum – also mit allen Persönlichkeitsanteilen - wohlfühlen wird. Und bis dahin?
Manche Wege, die zum Ziel führen, sind steil und gefährlich, andere führen durch einsame Gebiete oder durch unwegsames Land. Es gibt die Trampelpfade der Pilger, aber auch Straßen, breit wie Autobahnen, die hoffnungslos übervölkert sind. Es sollte nicht der biblische, dornenreiche Pfad sein. Es geht darum, den besten Weg für sich selbst auszuwählen. Ideal wäre es, eine Strecke zu finden, die ähnlich attraktiv ist, wie das Ziel selbst.
Einen neuen Weg zu beginnen, der die Richtung im Leben drastisch ändert oder gar eine Kehrtwendung beschreibt, macht unruhig. Es gibt so etwas wie ein Kontinuum der Selbstentwicklung, das dafür sorgt, dass man für sich selbst und für andere erkennbar bleibt. Deutliche Veränderungen geschehen meistens nicht von heute auf morgen, sondern Schritt für Schritt oder ruhig fließend. Der Sicherheitsanteil wird darauf achten, dass man bei der Kurskorrektur nicht aus der Bahn gerät. Eine weiche Kurve als Veränderung des Lebenslaufes ist manchmal eine Entwicklung, die über Monate oder gar Jahre kontinuierlich zu einer neuen Ausrichtung führt.
Lösungssuche ist eine kreative Arbeit, an der alle Persönlichkeitsanteile mit ihren speziellen Kompetenzen beteiligt sind. Sie geschieht im Wechsel zwischen wild wuchernder Fantasie und konzentrierter Wahrnehmung von Möglichkeiten und Konsequenzen. Man kann zum Beispiel völlig chaotisch irgendwelche Skizzen zu Papier bringen oder in freier Assoziation Worte aneinander reihen. Danach lehnt man sich zurück, deutet und prüft nach festen Regeln, was aus diesem Informationssalat nützlich sein könnte.
Wie ein Fischer breitet man das Netz aus und zieht es durch den Fluss. Je breiter und tiefer das Netz ist, desto größer ist die Chance, dass etwas hängen bleibt. Erst dann, wenn man den Fang geborgen hat, beginnt man zu werten und zu sortieren. Diesen Vorgang kann man an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Tageszeiten wiederholen. Manchmal ist es hilfreich, zwischendurch zu einem Netz mit einer anderen Maschenweite zu wechseln, damit die wahren Goldstücke von den großen Dingen getrennt werden.
Tagtäglich beobachten wir, wie andere Menschen in bestimmten Situationen agieren und reagieren. Sie liefern Verhaltensmuster, die wir – ob wir wollen oder nicht – unserem Katalog hinzufügen. Es bedarf nicht unbedingt einer Hypnose, um diese Ideen aufzugreifen. Jeder Mensch, der kreativ nach einer Lösung sucht, wühlt in dem Lager seiner erinnerbaren Reaktionsmuster, bewusst oder unbewusst.
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Im tiefen, weiten Ozean des Unbewussten sind die Ressourcen wirklich unerschöpflich, denn sie werden täglich mit Millionen neuer Wahrnehmungen ergänzt. Sie vermehren sich auch dann, wenn man alle Sinne schließt. Eine Erinnerung trifft auf ein Erlebnis aus anderer Zeit oder von anderen Personen - und auf einen Persönlichkeitsanteil, der Lust auf eine neue Verhaltensalternative hat.
Fantasien entstehen aus der Paarung von Erfahrungen. Sie zeugen gemeinsam eine neue Geschichte.
Ich sitze mit meinem Freund und seiner Frau morgens am Frühstückstisch. Wir schweigen und jeder scheint sich irgendwie auf den Tag vorzubereiten.
Dann sagt sie: ‚Ich habe keine Lust auf den Job. Ich weiß nicht, was ich machen soll.’
‚Wenn du es selber wüsstest, was dir jetzt am meisten Freude bereitet, was tätest du denn?’
Eigentlich weiß man, wozu man Lust hat. Die Füße auf den Tisch legen. Mit einem lieben Freund ins Kino gehen. Ein Haus bauen. Sich mit dem Nachbarn unterhalten. Mal wieder ein spannendes Buch lesen. Sich etwas Schönes anziehen und ausgehen. Was auch immer, es ist einfach – wenn da nicht einige Bremsen oder Schranken wären, die verhindern, einfach das Einfache zu tun.
‚Ich würde gerne einen Einkaufsbummel machen. Aber, ich muss doch gleich zur Arbeit. Ich muss Geld verdienen. Heutzutage kann man nicht einfach mal blau machen.’
‚Du willst einerseits auf das Einkommen nicht verzichten – und andererseits heute Vormittag einen Einkaufsbummel machen?’
Man kann vermuten, dass sowohl die Idee, Geld zu verdienen, als auch der Wunsch, durch die Geschäfte der Innenstadt zu schlendern, von wichtigen Bedürfnissen und Erfahrungen gespeist werden. Häufig symbolisieren Konflikte etwas anderes. Ich kenne Anne-Luise schon eine Weile. Ihr Individualitätsanteil ist stark ausgeprägt. Sie liebt ihre persönliche Freiheit.
‚Du vermisst die Freiheit, nicht wahr?’
‚Ja. Als wir damals zusammen studierten, war das Leben viel schöner, findet ihr nicht?’
‚Was ist zu tun, damit du es noch schöner hast als damals?’
Auf diese Frage, die sich jeder auf seine eigene Weise stellen wird, gibt es nicht eine, sondern Millionen Antworten. Man muss sie nur stellen und anschließend den großen Katalog öffnen.
Kinder beherrschen das. Sie spielen immer wieder neue Lebensvarianten durch. Sie schlüpfen in Rollen, verkleiden sich, probieren etwas aus, für sich alleine und gemeinsam mit Spielkameraden.
Ein Mädchen ruft: ‚Ich wäre wohl eine Prinzessin!’
Bereits während sie das sagt, verändert sich ihre Haltung. Sie nimmt eine andere Sprache an, bewegt sich anders, denkt und fühlt anders – die Spielkameraden steigen mit ins Spiel ein: ‚...und ich bin die Königin!’
Ein Junge meint, er sei der Ritter und galoppiert in voller Rüstung auf seinem imaginären Pferd davon, neuen Abenteuern entgegen. Die beiden rufen ihm noch etwas nach, aber er ist schon hinter dem Fantasiewald verschwunden.
‚Was ich tun kann, damit es noch schöner wird als damals?’
Meine Freundin schaut mich empört an. Ich nicke nur ruhig und gieße mir noch eine Tasse Kaffee ein. Sie wird sich ihre Freiheit zurücknehmen, denke ich, die sie, um im Job irgendwie klar zu kommen, gegen die Rolle einer zuverlässigen Mitarbeiterin eingetauscht hatte. Ihre Miene entspannt sich. Sie nimmt das Telefon und klärt kurz mit ihrem Chef, dass sie heute Vormittag einige Überstunden abfeiern muss, wegen wichtiger privater Dinge, die zu erledigen sind. Kein Problem, sagt der, denn er weiß, wie zuverlässig und gewissenhaft sie ist.
Natürlich ist das keine dauerhafte Lösung. Auch wissen nicht alle Chefs um die Bedeutung der persönlichen Bedürfnisse ihrer Mitarbeiter. Aber, es war ein Anfang. Wenn man einmal begonnen hat, wie damals, als man mit anderen Kindern spielte, auf die eigenen Erfahrungsressourcen zuzugreifen, öffnen sich die Pforten der Kreativität.
‚Ich wäre wohl eine starke Frau, die ihren beruflichen Weg selbstbewusst geht.’
‚Das bist du’, sagt ihr Mann.
‚Jedenfalls habe ich alles, was man dafür braucht, oder?’
Falls heute noch etwas fehlt, kann man sich bei seinen unerschöpflichen Ressourcen bedienen. Die Schatzkammern öffnen sich, wenn man seine eigene Kreativität zulässt.
Die Kreativität ist kein herausragendes Merkmal weniger Künstler, sondern eine Quelle, bei der sich jeder Mensch bedienen kann, weil sie jeder in sich trägt. Sie ist ein wichtiges Organ der menschlichen Seele.
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Um uns selbst entwickeln und durch das Leben steuern zu können, brauchen wir ein Spannungsfeld, das uns signalisiert, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Irgendwo zwischen den Kraftpolen Durchsetzung und Sicherheit, Individualität und Zugehörigkeit, Erkenntnis und Empathie findet jeder Mensch die eigene Mitte, abhängig von seiner Persönlichkeit.
Unter Spannung zu stehen bedeutet, weder der einen noch der anderen Seite gerecht zu werden. Man fühlt sich entspannt, wenn man das ‚Sowohl als auch’ gut erfüllt hat. Um sich in dieser Mitte zwischen den Spannungspolen wohl zu fühlen, muss man allen Persönlichkeitsanteilen genügend Nahrung geben.
‚Was kann ich jetzt und für die Zukunft tun, um
mich durchzusetzen, ohne meine Sicherheit zu gefährden,
um mich anzupassen, ohne meine Eigenständigkeit aufzugeben
und um die logischen Strukturen zu erkennen,
ohne die Möglichkeit zur Einfühlung zu vermissen?’
Die Antworten darauf variieren im Laufe des Lebens, denn sie sind abhängig vom Kontext, in dem man sich bewegt.
Die Spannungen, die man als Gefühle wahrnimmt, sind die Triebfedern des Handelns. Man muss etwas tun, um all diesen Seiten gerecht zu werden, sonst hält man ‚Es’ nicht mehr aus.
Die Kreativität stellt Handlungsalternativen zur Verfügung. Sie ermöglicht nicht nur zur Situation passende Reaktionen. Sie ist die Voraussetzung für die Entwicklung sowohl jedes einzelnen Menschen als auch der gesamten Menschheit.
Es treibt mich zu immer neuen Verhaltensalternativen, bis ich die für mich in der jeweiligen Umgebung optimale gefunden habe.
Diese Arbeit findet in den Träumen statt. Man muss schlafen, damit sich aus den Spannungspotenzialen Handlungsideen generieren. Man muss wach sein, um die Handlungen ausführen und prüfen zu können, damit sich den Ressourcen neue Erfahrungen hinzufügen.
Die Ressourcen sind vorhanden. Man muss nur das Tor der Schatzkammer öffnen, wenn man auch mit dem wachen Bewusstsein sich dieser Quellen bedienen will.
‚Sesam öffne dich!’
Das innere Team jedes Einzelnen kennt den geheimen Spruch. Es gibt kein allgemeingültiges Rezept für den Zugang. Manche Menschen brauchen die Abgeschiedenheit eines Strandes oder die Zeit eines einsamen Spaziergangs durch einen Park. Andere setzen sich vor ein leeres Blatt Papier, drehen die Kappe von ihrem Füllhalter und beginnen die ersten Worte zu schreiben, die sich dann von selbst ergänzen. Es gibt Menschen, denen beim Joggen die besten Ideen kommen. Was wohl für alle gilt, ist die Haltung des Zulassens. Solange man krampfhaft nachdenkt, steckt man in den Spannungen fest. Konzentration kann bedeuten, im Zentrum eines Problems festzustecken.
Zum Öffnen der Schatzkammern muss man das Zentrum des Problems verlassen – also die Konzentration beenden. Hierfür gibt es verschiedene Metaphern. ‚Ich wäre wohl Ali Baba’ ist eine davon.
Andere sind zum Beispiel:
Ich gebe ‚es’ auf, nach einer Lösung zu suchen.
Wie würde meine Freundin mit dieser Situation umgehen.
Wenn ich Millionen im Lotto gewonnen hätte...
Wenn die gute Fee käme…
‚Es’ ist egal. Ich schreibe einfach ein paar Stichworte.
Ich male ein Bild, in dem sich einige Lösungen verstecken.
Ich improvisiere eine Theaterszene.
Zu einem Wort, das mit dem Thema nichts zu tun hat, schreibe ich dreißig Begriffe, die auch nicht dazu passen. Oder, ich verknüpfe verrückte Themen miteinander.
Zum Beispiel kann man sich vorstellen, barfuß auf einer morgentlich feuchten Wiese zu stehen. Das Schloss mit dem Sitzungssaal ist am Horizont nur noch zu ahnen. Ein Maulwurf schaut aus seinem frisch aufgeworfenen Haufen heraus und nimmt seine schwarze Brille ab. Während er sie putzt, singt ein Wanderer drüben am Bach nach einer alten Melodie einige Worte, die man nicht versteht. Jetzt kann man genau diese unverständlichen Worte auf ein Blatt Papier schreiben, denn der Wanderer sagt es direkt den ausführenden Fingern, was sie schreiben sollen.
Ungeübte in Sachen bewusster Kreativität können mit anderen auf eine Ideensuche zu gehen. Gemeinsam etwas Verrücktes zu tun fördert Lachen und Einfälle. Man schaukelt sich gegenseitig auf, gibt es auf, sich auf Vernünftiges zu konzentrieren oder sich vernünftig zu verhalten. Schon bald beginnt es aus dem Unbewussten zu sprudeln.
Das Verrückte – also etwas das aus dem Spannungsfeld herausgerückt ist – liefert mehr Handlungsalternativen als man braucht.
Es ist tatsächlich so, dass wir kreative Einfälle nur zulassen, aber nicht machen können. Sie entstehen nicht durch das Denken, sondern trotz des Denkens. Sie entstehen nicht durch Emotionen, sondern schlüpfen durch die Gefühle hindurch.
Manche Menschen halten die Quellen der Fantasie für etwas Außermenschliches. Das mag daran liegen, dass auch andere Menschen die gleichen Phänomene irgendwie ähnlich wahrnehmen – und daran, dass man es nicht bewusst in den Griff bekommt. Die Kreativität kommt, wie sie es möchte und wann sie es will. Sie bedient das Bewusstsein aus der inneren Schatzkammer, wenn das Bewusstsein es zulässt.
Man muss nur das Netz auswerfen. Es füllt sich von allein. Der Fischreichtum des inneren Sees Genezareth versiegt nie.
Der nächste Schritt beginnt mit dem Einziehen des Netzes, mit der Sichtung des Fanges, der zum Beispiel als ein Haufen Zeichenpapier oder als lange Liste mit Begriffen auf dem Tisch liegt. Nun geht es um die kritische Würdigung aller Ideen durch alle Persönlichkeitsanteile. Dabei wirken besonders Empathie- und Erkenntnis-Anteil eng zusammen.