Mein Paradies

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut und der Geist Gottes schwebte über den Wassern.
(Genesis, 1, 1-2)

In Ostfriesland, dort wo Ems und Leda zusammenfließen, hatten unsere Großeltern einen kleinen landwirtschaftlichen Betrieb. Nebenerwerb. Fünf Kühe, zwei Schweine. Ein Hektar Acker für Gemüse. Ein paar Obstbäume.

Das alte Haus war der Länge nach auf einem Meter tief in den Deich hinein gebaut worden. Im Gulf lagerte Torf, mit dem die Öfen in der Küche und im Wohnzimmer geheizt wurden. All das roch auf eine wundersame Weise anheimelnd, beruhigend, tröstend und kraftspendend.

Vom Deich konnte ich nach Westen kilometerweit ins flache Land hineinblicken und gen Norden, Osten und Süden spiegelten sich die Wolken in den beiden Flüssen, die sich hier vereinten.

Ein Fischerboot lag mit ausgebreiteten Netzen im Strom. Am späten Nachmittag trug der Fischer einen Eimer mit jungem Aal vorbei. Wollt Ihr Brataal?

Manchmal öffnete sich knarrend die große Drehbrücke, um einen Heringslogger durchzulassen, der seine Fracht im Leeraner Hafen löschen wollte. Jenseits der Leda sah ich die Dampfwolken der gen Süden fahrenden Eisenerz-Züge.

Dort oben zu sitzen oder langgestreckt im Gras zu liegen, die Weite des Himmels einzuatmen, den Vögeln zuzusehen und das gelegentliche Muhen der Kühe zu hören, das war mein Paradies.

Manchmal kam Großvater zu mir auf den Deich und wir schauten über das Land und den weiten Himmel. Wir redeten nicht. Wir atmeten nur die Natur in uns hinein. Meist ging er mit den Worten ‚Ja, das ist mein Gott‘ wieder nach unten zur Scheune, um die Kühe zu versorgen.

Ein paar Tage später musste ich zurück ins wirkliche Leben, das damals die Hölle für mich war. Ich versuchte irgendwie so mit den Depressionen unserer Mutter umzugehen, dass es nicht eskaliert, damit sie ihre Selbstmorddrohungen nicht wahr mache.

Ich wurde zum lieben, braven Jungen, der ihr die Wünsche von den Augen ablesen konnte, der es dennoch nie richtig schaffte, sie aus diesen schwarzen Gedanken herauszuziehen. Ich fühlte mich schuldig bei jedem traurigen Blick, den sie mir zuwarf.

Es war lebensbedrohlich, denn wie hätten meine drei jüngeren Geschwister ohne sie aufwachsen können. Und wie würde Vater reagieren, wenn er Samstagabends nach Hause kommt und sie wäre nicht mehr da? Meine Angst wuchs und war nicht mehr zu ertragen. Abends habe ich Gott gebeten, er möge mich doch bitte, bitte sterben lassen.

Er half mir nicht.

Aber, ich lernte mir in meiner Fantasie vorzustellen, wie es sein würde, im jenseitigen Paradies zu sein. Ich schuf mir meinen eigenen Garten Eden.

Ich glaube, jeder Mensch hat bewusst oder unbewusst sein eigenes Paradies, das er erinnern und in das er jederzeit im Traum oder in einer Fantasie-Reise zurückkehren kann.

Sobald wir auf dieser Ebene des Seins angekommen sind, können wir uns in aller Tiefe entspannen. Wir reflektieren und würdigen die Gegenwart und schöpfen Kraft für neue Aufgaben.

Manchmal, wenn wir dafür offen sind, schauen wir mit unserem Paradies-Bewusstsein auf die Zeit, in der wir leben, nehmen wahr, wie sich unsere Mitmenschen fühlen und vielleicht auch, wie wir sie unterstützen können.

Mit zunehmender innerer Offenheit und Bereitschaft wird aus dem Genuss-Paradies eine Werkstatt für Menschlichkeit.

Wir dürfen genießen und wir dürfen uns kümmern. Beides zu seiner Zeit und nach unseren Möglichkeiten. Wir sind frei.