Attilas Festtags-Apokalypse II

Wir werden eher durch das Schicksal als durch unsere Vernunft gebessert.

François de La Rochefoucauld

Die große, einzeln stehende Fichte brennt knisternd und rauchend. Hohe, helle, gelbe Flammen sind weithin sichtbar und beleuchten gespenstisch flackernd die einsamen Wege mitten im Spreewald. Laut knackend frisst sich das Feuer in die Äste. Gierig greift das heiße, brennende Gas immer wieder nach dem nächsten Stück Holz und lässt das Öl in den harzigen Nadeln verdampfen. Sie halten dem Druck nicht stand, bersten und sprühen das heiße Öl in die lodernden Flammen. Der Brand nährt sich selbst und wächst bis an den Rand seiner Möglichkeiten. Die gesamte Fichte brennt. Immer wieder stürzt ein brennender Ast in die Tiefe, bricht auf seinem Weg weiteres, glühendes Holz aus dem Baum und zieht dabei einen langen Schweif an Funken hinter sich her. Diese rieseln langsam zu Boden und ihr tiefrotes Glimmen wird durch das flackernde Blaulicht der Löschfahrzeuge violett verfärbt. 'Ein einzigartiges Schauspiel, dem Festtag angemessen', denken die wenigen Beobachter. Die Kameraden der freiwilligen Feuerwehr haben natürlich eine andere Meinung zu dem ganzen Spektakel. Sie überlegen bereits, wie sich der Verursacher dieser Störung des Festtagsablaufes ausfindig machen lässt.

Nur wenige Minuten zuvor hat die flüchtige Drohne schnell ihren Weg in die Freiheit gefunden. Ohne auch nur einen kleinen Schwenk zu unternehmen, strebte sie in direkter Linie vom brennenden Haus hinweg. Auf ihrem Kurs gewann sie langsam an Höhe. Der schwere, glühende Metallteller hinderte sie an einer zügigen Aufwärtsbewegung. Wenige Meter hinter dem Hof kam ihr ein Hindernis in Form des einsamen Baumes in den Weg. Mit viel Schwung flog sie direkt in das dichte Astwerk hinein. Es war das Schicksal des Fluggerätes, bereits hier, in dem einzigen Hindernis entsprechender Höhe, sein Ende zu finden. Die Akkumulatoren hätten ohnehin nur noch Energie für die nächsten 23 Sekunden geliefert. Es war sozusagen ein technologischer Suizid aus purer Verzweiflung, gemischt mit dem unmöglichsten Zufall, den es an diesem Ort gab: auf Neudeutsch 'Murphy's law'.

Der Einsatzleiter der Feuerwehr erkennt schnell, dass an dem Baum nichts mehr zu retten ist. Zum Glück steht er vereinzelt am Straßenrand, mitten auf einer großen Freifläche. Von ihm aus kann sich der Brand nicht ausbreiten und auf andere Bäume oder gar Gebäude übergreifen. Schläuche werden in aller Ruhe ausgerollt und an die Löschwagen angeschlossen, die im weiten Kreis, gleich einer Wagenburg, um dem brennenden Baum stehen. Fast gleichzeitig ergießen sich mehrere, meterlange Fontänen weißen, dichten Schaumes auf den Baum. Das Feuer in den Ästen, ganz besonders in den oberen, bäumt sich noch einmal auf. In die Wolken aus fliegenden und langsam verlöschenden Funken mischt sich grauer Dampf. Mehrere Feuerwehrleute mühen sich mit den Schaumkanonen ab. Unweit von Matz steht eine Frau im Schutzanzug, die ihren Helm abgenommen hat. Er scheint sie bei der anstrengenden Arbeit zu stören. Die zierliche Frau stemmt sich mit ganzer Kraft gegen die Macht des Wassers. Mit beiden Händen hält sie das kurze, breite Metallstück am Ende des Schlauches. Geschickt steuert sie Unmengen weißen Löschschaumes direkt in die Feuernester und fängt mit ihm gleichzeitig die Garben aus Funken ein, die vom Brand hinwegstreben. Ihre langen, dunkelroten Haare werden vom Luftstrom angesaugt, der nahe am Baum aufsteigt. Die heißen Verbrennungsgase reißen rund um den einzelnen, brennenden Baum alle Luft nach oben und der Kamineffekt zieht die kühle Luft der Umgebung am Boden an. Matz ist von dem Anblick fasziniert: Vor Bergen aus weißem Schaum arbeitet eine kleine, schmale Frau an einer riesigen, dröhnenden Maschine. Es sieht aus, als würde ihr Kopf ebenfalls in Flammen steht, die langen, roten Haarflechten tanzen über ihr im Wind. Feuer wird durch Feuer gezähmt! Die Gestalt kommt ihm bekannt vor, irgendwie vertraut. Nach einigen Minuten fällt es ihm endlich ein: Das muss Anja sein! Sie hatten vier Jahre nebeneinander gesessen, in derselben Schulbank. Nach der Schule verlor er sie schnell aus den Augen. Mit einem Mal interessiert ihn, was sie heute macht. Feuerwehr wird nicht ihre Hauptbeschäftigung sein, wahrscheinlich ähnlich wie bei ihm selbst. Obwohl er den Hof geerbt hat, haben seine Tätigkeiten keine Nähe zur Landwirtschaft. Warum ist ihm Anja bisher im Ort nicht aufgefallen? Ja, er ist selten hier, viel unterwegs und in seinem Zuhause liebt er die Ruhe und Abgeschiedenheit. Obwohl sein neuer Gast meist amüsant ist, vermisst er doch oft das Alleinsein. So hat er Anja wohl einfach nicht getroffen. Während Matz verträumt die tanzenden Haare vor dem Schaum betrachtet, findet die Arbeit der Feuerwehr schnell ihr Ende. Die letzten Glutnester leuchten nur noch schwach in einem tiefen, blassen Rot durch den aufsteigenden Dampf. Es ist der letzte Widerstand des Feuers gegen den gebündelten Willen der Löschbrigade. Die ersten Schläuche werden bereits entleert und wieder eingerollt.

Trotz der ungewöhnlich hohen Temperaturen an diesem Jahresende ist der Baum weiß gefärbt: vom Löschschaum. Einer der wenigen Beobachter lässt ein Blitzlicht aufleuchten, denn die weiße Weihnacht 2013 ist immerhin ein Foto wert.

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Matz und Attila stehen im Torbogen, der den Eingang zum 'elemec'-Hof kennzeichnet. Beiden lehnen sich an die entgegengesetzten Pfeiler. Sie trennt der Weg, der auf den Spreewaldhof führt. So entgegengesetzt wie ihr Standort ist, sind auch ihre Gedanken. Während Matz das Feuer und die Bemühungen der Feuerwehr - ganz besonders die Arbeit von Anja - interessiert betrachtet, freut er sich nebenbei, dass Attila nun Verantwortung übernehmen muss. Dessen Sinnsuche hat damit ein vorläufiges Ende. Am anderen Pfeiler des Torbogens ist Attila entsetzt und mag sich noch gar nicht vorstellen, was in den kommenden Tagen von ihm erwartet wird. Bisher war das alles lustig und das Leben auf Matz-elemec Hof ein einziger, andauernder Spaß. Sein Retter und Gastgeber ist sehr tolerant und sieht ihm so manche Zerstörung von Kleinigkeiten nach. Diese sind bisher immer reparabel gewesen. Nun hat er ein Stück Gemeineigentum unwiederbringlich vernichtet und vielen Bewohnern des inneren Spreewaldes zusätzliche Arbeit am Heiligen Abend beschert. Da er keine Werte mehr besitzt, wird er den Schaden abarbeiten müssen. Natürlich wäre die wiederholte Flucht ein Ausweg. Er möchte jedoch in keinem Falle Matz enttäuschen. Der 'elemec' hat ihn gerettet und ihm eine anonyme, sichere Unterkunft gegeben - alles uneigennützig und er hat so getan, als ob das das Natürlichste auf der Welt wäre. Attila kann alle Gegenstände des Hofes ganz selbstverständlich nutzen und Matz fragt ihn nie nach einer Bezahlung für Unterkunft, Essen und Entertainment. In der Vergangenheit hat er es immer vermieden, persönlich Verantwortung zu übernehmen. Entwuchsen seinen Handlungen bisher Probleme, hat er es vermieden, diese zur Kenntnis zu nehmen. Er ist vor ihnen geflüchtet oder hat seine Mitmenschen die Folgen beseitigen lassen. Seit seiner Jugend ergeht es ihm wie dem sagenhaften König, der mit seinen Berührungen alles in Gold verwandelte. Mit einem kleinen Unterschied: Alles was Attila anfasst, wird kurz darauf zerstört. Seit Tagen ahnt er, dass ihm dieses Verhalten folgerichtig den Weg in die Politik wies. Als Teil des politischen Establishments trug er natürlich keine Verantwortung. Schon aus Prinzip muss kein Politiker die von ihm getroffenen Entscheidungen verantworten. Dies übernehmen in jedem Falle immer und ausschließlich die Wähler und übrigen Steuerzahler. Während Attila den vom Löschschaum weiß gefärbten Baum betrachtet, wird ihm klar, dass er die finale Entscheidung für die radikale Änderung seines Lebens bereits getroffen hat. Ganz tief im Inneren seines Hirns vernimmt er einem starken Widerhall des Gedankens: 'Dieses Mal flüchte ich nicht. Ich stehe zu meinen Handlungen und übernehme Verantwortung.'

Ob Attila zukünftig auch dem 'elemec' bei seinem Kampf gegen die technologische Bestiade helfen wird? Wird Matz Anja wiedersehen? Wir werden es erleben...