Gebrauchte Pausenbrote
Der Kandidat geht langsam die Uckerpromenade entlang. Das Wetter ist angenehm und der große Unteruckersee zu seiner Linken liegt ruhig und glänzend in der Sonne. Nach diesem unmöglichen Frühjahr zeigt sich der Tag des Sommeranfangs von seiner besten Seite. Hans-Georg Schlottermüller (eigentlich Attila … benannt nach dem Führer der Hunnen, die Europa eroberten) ist ebenso optimistisch gestimmt wie das Wetter um ihn herum. Sein neuer Vorname steht ihm gut - genau wie sein neuer Anzug. Beides hat er sich vor wenigen Tagen zugelegt. Er ist jetzt ein solider, konservativer Politiker - Spitzenkandidat der 'Wahren Partei des Deutschen Volkes'. Und er ist auf dem besten Weg, den Bundestag zu erobern. Während der vergangenen Tage konnte er sich über ein extremes Wachstum an Parteimitgliedern und Zustimmung im Wahlvolk erfreuen. Die Extrapolation der Zuwachsraten prophezeit ihm einen furiosen Wahlsieg und die absolute Mehrheit im Parlament. Wer hätte das gedacht? Vielleicht sein Vater? Warum hat er ihn sonst Attila genannt. Das ist eine Geschichte, die ihm sein Vater vor zwei Jahren erzählte.
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Nach der Geburt musste sich seine Mutter noch einige Tage im Krankenhaus erholen. Der Vater war deshalb allein mit der Namensgebung beschäftigt und hat ihn prompt nach Attila dem Hunnen benannt. Das war eine ganz und gar logische, folgerichtige Entscheidung. Wie das so sein musste, wurde die Geburt des Sohnes am Stammtisch begossen - bereits eine halbe Stunde nach dem freudigen Ereignis. Nach dem 17-ten Toast auf den neuen Steuerzahler, wurden mehr oder weniger verständliche Voraussagen über sein zukünftiges Leben getroffen.
„Mmmei Sonn erobät die Wellt!“ brachte der stolze Vater heraus.
Nicht jeder am Tisch verstand dies noch - natürlich wegen der Lautstärke im Schankraum. „Waat sollär dun?“
„Die janze Erd obern - überalles besitzen - oder so.“
Allmählich machte sich pures, nachhaltiges Verständnis am Stammtisch breit. Die Gesichter hellten sich freudig auf, als die Bedienung die 18-te Runde Doppelkorngläschen auf dem Tisch verteilte. „Ah‘ soh! Jo, daan nen‘n nich Adolf. Jibt sohnst Ärgah.“ Zustimmendes Nicken der gesamten Runde begleitete diese Feststellung.
Von diesem Augenblick an war Alois der festen, unerschütterlichen Überzeugung: sein Sohn würde die Welt erobern. Der Versuch, am folgenden Tag diese bahnbrechende Erkenntnis auch seiner Frau mitzuteilen, endete in einem kleinen Desaster. Sie musste noch weitere drei Tage zur Erholung im Krankenhaus bleiben. Das konnte Alois Schlottermüller nicht davon abbringen, nach einem passenden Namen für den zukünftigen Welteneroberer zu suchen. Meyers Lexikon war ihm eine prächtige Hilfe dabei. Da fanden sich viele Namen von Imperatoren, Feldherrn und anderen, mehr oder weniger geistig gestörten, sogenannten Persönlichkeiten der Geschichte. Irgendwie hatten so gut wie alle jedoch eine Gemeinsamkeit: am Ende waren sie gescheitert. Alois kannte sich mit der Wissenschaft von der Welteroberung nicht so gut aus. So suchte er nach Namen von Eroberern. Da gab es Napoleon, Caesar, Attila, Dschingis Kahn, Alexander und viele mehr. Der entscheidenden Makel all dieser Personen verwirrte ihn weiter: entweder scheiterten sie am Ende oder ihr Tod war brutal oder bis heute ungeklärt. Da er keine der Größen ohne dieses Endphasenproblem fand, verbannte er diesen Fakt aus seinen Untersuchungen. Eigentlich gefiel ihm die Geschichte Dschingis Kahns am besten. Hier tat sich aber sofort ein neues Problem auf. Dieser Eroberer hieß eigentlich Temüdschin. Mit ‚Temüdschin Schlottermüller‘ konnte er sich gar nicht anfreunden. So viel seine Wahl auf den Namen Attila. Dieser Feldherr und Herrscher war kaum fassbar und seine Geschichte etwas nebulär. Das abenteuerliche, unbekannte, unfassbare Element gefiel ihm fast genau so gut, wie die Erfolgsstatistik von Dschingis Kahn und dessen Nachfahren. So stand der Name 'Attila' fest und der Standesbeamte fiel fast in Ohnmacht. Alois setzte sich durch und brachte am Ende doch nicht den Mut auf, das seiner Frau zu berichten. Ihr sagte er, der Sohn hieße Armin. So wurde er auch bis zu seiner Einschulung genannt. Als bei der feierlichen Übergabe der Schultüten ein 'Attila Schlottermüller' zur Bühne gebeten wurde, kam es zur vorhersehbaren Katastrophe: der Saal tobte vor Lachen und die Mutter musste wegen einem Kreislaufzusammenbruch wieder ins Krankenhaus eingeliefert werden. Seinem Vater verzieh sie das nie und ließ sich sofort scheiden. Seit dem sah sie Attila nie wieder. Die Schulzeit entwickelte sich anfangs ganz natürlich, wie dies zu erwarten war: Attila wurde wegen seines Namens gehänselt und zum Außenseiter. Seinen Vater betrübte dies zwar etwas, er verstand aber auch, dass ein Welteneroberer nicht der Freund aller Menschen sein kann. Um seinen Sohn zu motivieren, erzählte er ihm fortwährend Geschichten von Attila dem großen Führer der Hunnen. Der kleine Junge wuchs mit den Nibelungen, Römern, Hunnen, Sagen, germanischen Helden und mächtigen Rittern auf. Auch hier entwickelte sich die Geschichte logisch und folgerichtig. Attila Schlottermüller identifizierte sich immer mehr mit Attila dem Hunnen. In der dritten Klasse erreichte dies einen ersten Höhepunkt und er sprach von sich selbst oft als 'Attila dem Hunnen'. Die anderen Kinder verstanden ihn nicht. Über Hunnen wusste niemand etwas. Mit Hühnern kannten sich seine Mitschüler aus. Sie veranstalteten regelmäßig Hühnerrennen in den Gärten der Nachbarschaft. Und so wurde sein Spitznahme 'Attila das Huhn'. Auch dieser war nicht unbedingt einer Integration in den Klassenverband förderlich.
In der vierten Klasse wurde er sich seiner Außenseiterrolle erstmals vollständig bewusst und sein Vater musste gegen eine ernsthafte Depression mit weiteren Heldengeschichten und Ruhmestaten von 'Attila dem Hunnen' anerzählen. Es ist im Nachhinein betrachtet schon erstaunlich, was dieser Attila in seinem nicht endlosen Leben alles erlebt und geschaffen hat. Alois strengte sich wirklich an, den Jungen aufzuheitern und ihm Mut zu machen. Auf Grundlage des langen, ja fast endlosen, Kampfes stellten sich im fünften Schuljahr die ersten Erfolge ein. Armin-Attila eroberte die Schule Schritt für Schritt. Die meisten Erfolge brachte der Handel mit gebrauchten Pausenbroten. Er hatte festgestellt, dass es eine Diskrepanz zwischen dem Angebot an Pausenbroten in den Schultaschen und der Nachfrage nach diesen Zwecks Hunger gab. Die Eigenschaft Hunger war jeden Tag anders über die Schüler verteilt. Ja, es gab Ausnahmen: den fetten Franz zum Beispiel, der schien überhaupt kein Sättigungsgefühl zu haben. Genau diese Extremfälle ließen sich im Spiel mit der Macht jedoch besonders gut nutzen. Das war eine wichtige Erfahrung, die er machte: Extremfälle, Leidenschaften und Begierden können erkannt und im Kampf um die Macht und deren Erhalt genutzt werden. So wie der Hunger täglich anders über die Schule verteilt war, waren es auch die überschüssigen Pausenbrote. Anfänglich vermittelte er nur zwischen Angeboten und Nachfragen. Schnell kam ihm die Erkenntnis, dass er nicht nur die Informationen weitergeben sondern den Tausch der Brote selbst übernehmen muss. Das sicherte den Informationsvorsprung und die Nachhaltigkeit des Geschäftes. Außerdem fand er schnell heraus, dass er für jede Vermittlung ein Deputat verlangen konnte. Für die Vermittlung eines Pausenbrotes bekam er am nächsten Tag ein neues vom hungrigen Nehmer des Vortages. Das sicherte eine Grundversorgung und zusätzliche Zahlungsmittel für seine Angestellten. Da gab es dann die Informationsquellen - freie Mitarbeiter - und die Verteiler und Lagerverwalter - feste Angestellte. In der siebenten Klasse war es dann soweit: alle Klassen, Gänge, Pausenhöfe und sonstigen Freiflächen waren als Lehen an seine Vasallen vergeben, die die Verteilung der Pausenbrote vornahmen. Er hatte den Handel mit Pausenbroten komplett in seiner Hand. Zum Ende des Schuljahres schlug die Marktwirtschaft gnadenlos zu: Da er von jedem Schüler täglich ein Pausenbrot bekam gab es mit einem Mal sehr viel mehr Esswaren, als benötigt wurden. An einem Freitag brach der Markt wegen 'Überproduktion' zusammen. Der größte Teil der Handelsware landete in den Papierkörben. Das Wochenende war schön und warm - 30 Grad im Schatten. Bis zum Montag Morgen hatte die Biologie in den Abfallbehältern ganze Arbeit geleistet. Die Schule war komplett unbenutzbar. Der Gestank der faulenden Frühstücksschnitten hatte sich in allen Räumen festgesetzt. Der Hausmeister hatte unbedarft am Morgen die Schule aufgeschlossen. Dafür war er, wie jeden Morgen, quer durch das große Gebäude gelaufen. Die halbe Alkoholvergiftung von der Feier am Sonntag Abend hatte seinen Geruchssinn gestört. Im Ergebnis seiner Bemühungen um eine rechtzeitige Öffnung des Gebäudes musste er mit dem Rettungswagen abtransportiert werden: Gasvergiftung. So gab es mehrere Tage keinen Unterricht. Die Schüler freuten sich, die Lehrer auch - nur die Schulleitung war auf der Suche nach dem Verursacher. Zu allem Überfluss erkannten Attilas Mitschüler, dass sie die Brote, die sie mitbrachten, auch selbst essen konnten. Die ganze Tauschaktion war sinnlos, wenn jeder seine Lieblingsschnitten mitbrachte. So kam Attila zu der neuen Erkenntnis: absichtliche Marktverknappung sichert die Macht, dauerhafte Geschäfte und einen hohen Gewinn. Nach zwei Wochen war der Normalzustand wieder hergestellt: nur wenige Schüler brachten Pausenbrote mit und wie es der Zufall wollte, hatten immer diejenigen Hunger, die keines bei sich hatten. Attila wusste zukünftig die Überschwemmung des Marktes mit seiner Handelsware zu verhindern. Dank der Hilfe des Mathematikunterrichts ließ sich exakt berechnen, wie viele Pausenbrote pro Tag notwendig waren, um den Markt zu sättigen. 20% weniger anzubieten, war also gar kein Problem. Das hielt den Preis hoch und beugte der nächsten Krise vor.
So hat der Vater Attilas Willen zur Macht herbeigeredet und '(Armin) Attila Schlottermüller' lernte bereits zum Ende der Grundschule die Marktwirtschaft und das Herrschen kennen, lieben und nutzen. Damit unterschied er sich mehr als deutlich von allen anderen Kindern seiner Schule. In der Zeit, in der seine Schulkameraden die Flöte oder das Klavier spielen lernten, spielte er bereits auf den Instrumenten der Macht. Die Wahl des Namens kann die Entwicklung eines Menschen entscheidend beeinflussen und sogar in eine ganz bestimmte Richtung leiten. Ähnliches kann mit der Berufswahl ausgelöst werden. Deshalb gibt es zum Beispiel in ganz Österreich keine Postkartenmaler mehr: ein Land beugt vor. Und: 18 Runden Doppelkorn am Stammtisch können eine enorme Wirkung auf die Politik haben. Es sollte niemand behaupten, an Stammtischen wird keine Politik gemacht.
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Der Wahlkampf um den neuen Bundestag beginnt früh in Prenzlau - bereits im Winter. Dieser ist lang und kalt. Das passt: es gibt somit viel Zeit für die Erarbeitung von Konzept, Strategie und Taktik. Wahlkampf ist Krieg an der Propagandafront. Attila weiß, wie Meinungen beeinflusst werden und kennt die Hebel und Schräubchen, an denen gestellt werden muss, um sich in den Mittelpunkt und das richtige Licht zu rücken. Ein großes Team aus Projektmanagern, Werbefachleuten, Designern, digitalen Informationsjongleuren, Social-Media-Beeinflussern und Propagandisten entsteht. Am wichtigsten sind jedoch die Offiziere außer Dienst. Sie organisieren die gesamte Propagandaschlacht. Schließlich muss jedes Detail stimmen - militärisch exakt werden die Aktionen geplant, ausgeführt und abschließend bewertet. Jeder öffentliche Auftritt muss stimmen: Attilas Wahlkampf ist die totale Inszenierung. Inzwischen ist sein Leben sein Wahlkampf - alles Inszenierung, alles totales Design - gestaltet, durchorganisiert - einfach gewaltig. Alle Mitarbeiter des Kommando- und Propagandastabs kommen regelmäßig nach Prenzlau. Prenzlau ist das Zentrum des Kampfes um die Macht geworden. Der Ort schläft nicht mehr und daran trägt im Jahr 2013 nicht nur die Landesgartenschau Schuld.
Zu Attilas Propagandastab gehört auch ein Typberater. Der hat die Idee mit dem neuen Vornamen: Attila klingt zu kriegerisch. Die Deutschen sind inzwischen in der Mehrzahl Pazifisten. Das ist nach den letzten zweihundert Jahren kein Wunder. Irgendwann musste den meisten Menschen ja die Lust am Berauben und Töten der Nachbarn vergehen. Attila weiß besser als jeder andere, was Namen bewirken können. So heißt er jetzt Hans-Georg mit zweitem und drittem Vornamen. Das ist gut, deutsch, konservativ. Auch der zweireihige Anzug mit den Nadelstreifen wurde durch einen schmucklosen, dunkelgrauen Einreiher ersetzt: ebenfalls deutsch und konservativ.
Attilas Weg führt ihn zu einem Treffen des Propagandastabs der Partei. Ein wichtiger Gast und möglicher Spender hat sich angekündigt. Heute kann sich der Ausgang der Wahl endgültig zu seinen Gunsten entscheiden. Vorfreude und Aufregung zaubern ein Lächeln in sein Gesicht, dass seine Umgebung offensichtlich falsch deutet. Eine aufgeregt mit den Armen und ihrer Handtasche in der Luft herumrudernde Frau steuert direkt auf ihn zu.