Im Keller nichs Neues

In der 'Crypto City', in Fort Meade, sitzt Frank Snider vor dem Display mit den aktuellen Statusmeldungen. Das Dashboard zeigt, dass es in Deutschland, immerhin bei einem 'Partner dritter Klasse', eine Verdichtung von Nachrichten gibt: wieder einmal Prenzlau. Seine Urgroßeltern hatten das Kaiserreich verlassen. Die muffige, geistige Enge des aristokratischen Deutschlands trieb sie vor mehr als hundert Jahren über den Atlantik. Hinzu kam natürlich auch die Verheißung eines guten Lebens in Amerika. 1886 war das Leben auf beiden Seiten des Atlantik nicht einfach. Freiheiten und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten bot das Land der unbegrenzten Möglichkeiten auf jeden Fall mehr als das mehrfach abgewirtschaftete Kaiserreich. Dieses Verhältnis gibt es heute noch - die Europäer lieben offensichtlich die Einschränkung persönlicher Freiheiten. Seine Familie sprach immer deutsch - zu Hause. So kam Frank in den Genuss einer zweisprachigen Erziehung. Nachdem der letzte Kaiser dem Rest der Welt den Krieg erklärte, nannten sich seine Großeltern 'Snider'. Alles Deutsche war viele Jahre lang nicht angesagt. Egal wie, er spricht Deutsch. Dies und das abgebrochene Technikstudium versorgten ihm einen langweiligen Job an den Statusmonitoren des Geheimdienstes. Er ist hier die Verlängerung der riesigen Maschine, die alle elektronischen Informationen aufsaugt, frisst, verrührt, verdaut und einige davon wieder ausscheidet. Das heißt, er ist der Wurmfortsatz der Datenverdauung. Immer wenn sich eine Unpässlichkeit in der Datenmenge herausbildet, die den normalen Durchfluss behindert und die Maschine deshalb einen Würgreiz verspürt, meldet sich seine Statusanzeige. Und er meldet sich bei seinem Chef.

Das ist insgesamt überhaupt nicht motivierend, ja es ist wahrhaft langweilig. Und am Tag der Sommersonnenwende kann er sich bessere Beschäftigungen vorstellen. Eine Nachtschicht oder Frühschicht hat an dem Tag im Jahr mit den meisten Sonnenstunden unschlagbare Vorteile: wieviel kann er am Tag und bei Licht unternehmen! Sein Trost sind das Wetter und fehlende Einfälle für Freizeitbeschäftigungen. Geheimdienst macht einsam. In seinem Kellerraum in 'Crypto City' kann er in Ruhe 'Trübsal blasen', muss das trübe Licht und den Regen nicht sehen. Bei den 20 Grad möchte er auch nichts unternehmen. So sitzt er vor seinem Monitor und starrt auf den immer größer und breiter werdenden roten Ring, in dessen Mitte 'Prenzlau' steht. Noch ist nicht die kritische Größe erreicht, bei der er seinen Chef benachrichtigen muss. Bei dem Wachstum des Ringes über die vergangenen drei Stunden wird dies auf jeden Fall noch in seiner Schicht geschehen. So beschäftigt er sich schon jetzt mit dem Inhalt der informationellen Darmverstopfung aus Prenzlau. Das spart Zeit. Die gigantische Maschine, die ganz nebenbei auch alle Gebäude des riesigen Komplexes mit ihrer Abwärme beheizen könnte, frisst sich weiter und weiter in den Datenstrom. Der rote Ring ähnelt einem Luftballon, der an einer Gasflasche gefüllt wird. Er wird langsam größer und größer. Jetzt hat er bereits die Ausdehnung der Abdrücke von Kaffeetassen erreicht, die den alten, gelblich braunen Aktendeckel verzieren, der auf seinem Schreibtisch liegt. Dieser ist Teil der taktischen Bürokampfführung: wer einen leeren Schreibtisch hat, bekommt neue Arbeit. Auch wenn sich selten ein Manager in sein Kellerzimmer verirrt, Frank ist vorbereitet. So kann zu der langweiligen Arbeit nicht noch stupider Unfug hinzukommen.

Ein Mouseklick auf den Informationsballon bringt diesen sogleich zum Platzen: viele Fenster und Ansichten mit Pressenachrichten, Emails, SMS-Mitteilungen und Telefongesprächen öffnen sich. Die Maschine hat alles bereits in räumliche, zeitliche und inhaltliche Zusammenhänge gebracht. Bunte Verbindungslinien unterschiedlicher Stärke zwischen den Fenstern visualisieren dies. Er vertieft sich in die dargestellten Ereignisse. In Deutschland finden in einigen Monaten Wahlen statt und offensichtlich ist in Prenzlau eine neue Partei gegründet worden. Diese hat regen Zulauf und die Mitglieder und Sympathisanten tauschen so viele Nachrichten aus, dass die große Maschine nervös wird. Sie hat offensichtlich die Keimzelle für mögliche, zukünftige Verschiebungen in der politischen Landschaft gefunden. Er darf nun einen 'Executive Summary' darüber für seinen Chef schreiben. Der glänzt dann damit bei seinem Vorgesetzten und dieser wieder eine Ebene höher und immer so weiter. Franks Name im Kopf des Berichtes verschwindet schon auf der ersten Ebene. Bekanntheitsgrad und Arbeit stehen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis. Deshalb hat er auch so einen schönen, fenterlosen und engen Raum im Keller des geheimen Daten-Palastes.

Seit einigen Tagen herrscht große Aufregung um die 'Snowden-Enthüllungen'. In 'Crypto City' versteht diesen Aufruhr niemand. Auf der ganzen Welt ist doch seit vielen Jahren bekannt, dass hier der gesamte Datenverkehr des Planeten überwacht, gespeichert und untersucht wird. Insbesondere die Aufregung in Deutschland findet Frank lustig. Über viele Jahre bekommt die Regierung dort bereits Nachrichten aus seiner Behörde. So wird dieser 'Executive Summary', den er über den 'Informationsballon Prenzlau' ausarbeitet, in wenigen Tagen auf dem Arbeitstisch eines Staatssekretärs in Berlin landen. Natürlich dienen diese Berichte ausschließlich dem Erhalt der Macht und der Sicherung des Status-Quo. Der Abwehr von Terrorismus hat seine Arbeit hier bisher nie gedient. Terroristen verfügen über viele, simple Mittel der Verschleierung. Mit Hilfe der Steganographie lassen sich geheime Texte in Bild-, Musik- und Videodateien verstecken. Ein normales Buch als Träger des Verschlüsselungscodes reicht aber nach wie vor auch. Und: die mächtige Maschine ist machtlos. Wer Nachrichten verstecken möchte, kann dies einfach und kostenlos bewerkstelligen. Diese Verstecke kann die große Maschine nicht durchschauen oder umgehen - sie kann viel, nur denken kann sie nicht. Die schönen Auswertungen zeigen Tendenzen und Verschiebungen in der Stimmung und Meinung des Wahlvolkes. Von jedem Bürger in den Industrie- und BRICS-Staaten existieren elektronische Profile. Nein, natürlich nicht von der großen Maschine angelegt - die Internet-Nutzer erledigen das ganz von allein. Bei jeder Suche über die großen Suchmaschinen und jedem Aufruf von Internet-Seiten hinterlassen sie digitale Fußspuren, die von den Werbetrackern begierig aufgesogen werden. Die auf persönliche Interessen und Vorlieben zugeschnittenen 'sachdienlichen Hinweise' begeistern inzwischen Millionen. Dafür werden von diesen persönliche Profile zugelassen, angelegt und bewusst gepflegt. Die Maschine in Fort Meade sammelt die Daten der Internetnutzer der Welt und fügt sie zu Meta-Profilen zusammen. Auf diese Art und Weise entstehen exakte Abbilder aller Interessen und Vorlieben jeden Bürgers. Filter suchen nach Bewegungsmustern und verdächtigen Abweichungen von den 'Standards'. Wer sich mit seinen Suchanfragen und gesendeten Nachrichten außerhalb der Trends befindet, gilt automatisch als 'verdächtig'. Die große Maschine stellt auffällige Bürger automatisch unter erweiterte Beobachtung. Hier greifen dann wieder schärfere Filter und Fuzzy-Logic und … und am Ende sitzt dann ein Sachbearbeiter vor einem Monitor und meldet die Spitzen der Eisberge der Auffälligkeit an seinen Chef. Und natürlich werden die Regierungen befreundeter Staaten mit Informationen versorgt - der berühmte Status-Quo muss nun einmal erhalten bleiben. Mit diesen Informationen, etwas Geschick und ausreichend Zeit kann jede Regierung die Meinungsbildung des Wahlvolkes steuern und den eigenen Machterhalt dauerhaft sichern. Zu viele Freiheiten für das Wahlvolk sind nun einmal nicht gut, damit kann es gar nicht umgehen.

Frank beginnt seinen Bericht mit der Chronologie der bisherigen Ereignisse im Fall 'Prenzlau'. Anschließend erarbeitet er eine Liste der handelnden Personen. Diese ist nach der Bedeutung in der Einflussnahme auf die Meinungsbildung unter der Gefolgschaft der 'Wahren Partei des Deutschen Volkes' sortiert. Die Maschine hat bei der Analyse der Texte eine Hitliste der Begriffe erstellt, die wiederholt in den Kommunikationen vorkommen. Diese Liste fügt er als dritten Teil seinem Bericht hinzu. Dass das Wort 'Partei' an erster Stelle steht und 'Deutsch' an zweiter, ist nicht weiter verwunderlich. Der dritte Platz erstaunt ihn. Wie kann das Wort 'Käsekuchen' auf diese exponierte Position gelangen? Sind in der neuen Partei nur Rentner organisiert, die sich regelmäßig zum Nachmittagskuchen in ihrem Lieblingskaffee verabreden? Hat die allmächtige Maschine sich einen Fehler geleistet? Ist das ein Codewort für einen anderen Begriff - vielleicht 'Bombe'? Weiter kommt er in seinen Gedanken nicht. Die Tür zu seinem Zimmer wird krachend und mit viel Schwung aufgerissen. Deren Griff poltert gegen die Wand und ein Stück Putz wird herausgeschlagen.

"Na Snider, alte Kellerratte! Irgend was zu melden?" dröhnt es ohrenbetäubend herein, bevor auch nur jemand in der Tür zu sehen ist. Die Stimme erkennt er natürlich sofort. Sein Chef scheint wieder einen seiner 'besonders lustigen Tage' zu haben.

"Käsekuchen" antwortet er nur einfach. Er weiß, dass sein Chef das deutsche Wort nicht versteht. Genau das reizt ihn ganz besonders zu der Aussage. So hat auch er jetzt einen 'lustigen Tag'.

"Häää? Was ist mit 'gas-kitchen'? Hast du 'was in deinem Kaffee?" ist die vorhersehbare Antwort - viel leiser als vorher. Das Gesicht mit den Stirnrunzeln gibt es als kostenlose Zugabe. Frank ist begeistert ob der Wirkung seines kurzen Ausspruches. Geringster Aufwand und maximale Wirkung ergänzen sich perfekt.

"Käsekuchen - cheesecake - möchte ich melden - oh mein Chef!" Das ist nun wirklich etwas fett aufgetragen. Mit der entsprechenden militärischen Ausbildung im Gepäck und außerdem einer regelmäßigen, wöchentlichen Motivationskur ist der Angesprochene praktisch 'merkbefreit'. So hört Frank ihn dann auch die erwartete Antwort geben.

"Snider, reiß dich zusammen! Wenn du mich mit solchem Unfug von meiner wichtigen Arbeit abhälst, dann kannst du die nächsten fünf Tage Akten aus dem vergangenen Jahrhundert sortieren!"

"Och nee, aber sieh' selbst, hier ist wirklich 'Käsekuchen' als einer der wichtigsten Begriffe aufgeführt." Sein Finger zeigt auf den Eintrag in der Hitliste, der gerade während ihrer Unterhaltung vom dritten auf den zweiten Platz gewandert ist.

"Da haben die blöden Softwerker wieder einen Fehler eingebaut. Können die nicht 'mal was bauen, das sofort funktioniert? Diese Bitschieber haben keine Ahnung vom Leben. Du meldest den Fehler sofort! Und mach denen Druck, die spielen sonst nur." Nach diesem Befehl dreht er sich abrupt zur Tür und verlässt den Kellerraum ohne ein weiteres Wort.

Frank sieht auf seine Armbanduhr - ein solches Relikt leistet er sich nach wie vor im Zeitalter der Smartphones. Da dieses in seinem Kellerverschlag ohnehin nicht funktioniert, nimmt er es meist nicht einmal mit zur Arbeit in den Datenbunker. Die Zeiger der Uhr deuten in eine sehr beruhigende Richtung: den Feierabend. Na endlich - das nimmt er ernst und in Deutschland gibt es keine Gefahrensituationen, die sofort weitergeleitet werden müssen. Das reichste Land der Welt ist keine Krisenzone. Also kommt es heute nicht mehr zu der Analyse bezüglich des diskutierten 'Käsekuchens' und der Meldung des potenziellen Fehlers. Im fernen Prenzlau nehmen die Ereignisse ihren Lauf, unbehelligt von diesem einen Geheimdienst des Landes der mächtig unbegrenzten Möglichkeiten. Andere Geheimdienste, staatliche und private, haben längst übernommen und kümmern sich…

W14C3P2
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http://texorello.org/W14C3P2
21. Juni 2013 15:40 Uhr
Ort: Fort Meade
Personen: Snider
21. Juni 2013 16:05 Uhr
Ort: Fort Meade
Personen: Snider