Stufe 6 - Die Wut der verzweifelten Hoffnung

Die sechste Bewusstseinsstufe offenbart universelle Liebe. Der Erhobene überstrahlt alles und jeden in seinem Umfeld. Er ist eins mit allem und kann als geistige Instanz die Nähe von Gefährten spüren. Alles wird möglich!

Seine Wut steigert sich ins Unermessliche. Gespeist aus der Aussichtslosigkeit der Lage und Endgültigkeit der Geschehnisse, erreicht sie eine Intensität, die er nie zuvor erlebte. Nur ein einziger, kurzer Schrei des ohnmächtigen Entsetzens entringt sich ihm. Das letzte Glas im Küchenschrank, verschont von der Explosion, wird von den durchdringenden Schallwellen dieser Gefühlsäußerung zerrissen. Niemand hört das zarte Klirren der Scherben, die sich auf dem Fußboden unter die anderen Bruchstücke diverser Gefäße und Einrichtungsgegenstände mischen. Dem Dacapo selbst hallt noch immer der Explosionsknall in den Ohren und die Beobachter vor dem Haus sind für die Aufnahme dieser leisen Töne zu weit entfernt. Der plötzliche, intensive Schrei lässt sie erschreckt zucken. Eingeschüchtert ziehen sie die Köpfe auf ihre Schultern und treten mehrere Schritte zurück. In der Synchronität ihrer Bewegung erinnern sie an ein Ballett. Der Hauch eines mächtigen, fremden Willens streift sie und zwingt ihnen eine unwillkürliche und augenblickliche Reaktion auf. Sie beobachten besorgt das zerborstene Fenster in der siebenten Etage. Wird sich ein weiterer Bewohner aus diesem stürzen?

Der Dacapo denkt gar nicht daran. Scherben, Unordnung und zerstörte Fenster stören ihn in diesen Augenblicken nicht. Er ist voll und ganz in seine innere Welt versunken.

Neben dem dumpfen Summen in seinen Ohren, beginnt sich ein anderes Gefühl in ihm auszubreiten: Hoffnung. Er fühlt die entfernte Anwesenheit seines tierischen Begleiters. Offensichtlich ist noch nicht alles verloren, Miezi lebt! Mit der Hoffnung kommt die Macht auf ihn zurück, durchströmt ihn. Gleich überheißer Lava siedet sie in seinen Venen und treibt ihn zur Aktion. Mit einem kräftigen Ruck öffnet er die Küchentür und schiebt mit deren Blatt die knirschenden Trümmer beiseite. Scherben und Bruchstücke schaben über den Boden und werden zur Wand gedrängt. Ein kurzer Sprung bringt ihn zu seinem Mantel, in den engen Flur. Nach seiner Ankunft hatte er ihn achtlos auf den Stuhl neben der Garderobe gelegt. Die schwere Waffe war aus dem Rückenholster gerutscht und liegt nun vor seinen Füßen. Der Dacapo reißt den langen, schwarzen Ledermantel in die Höhe und dreht sich gekonnt in diesen hinein. Gespenstisch glimmen die Schulterstücke und beleuchten seinen Kopf in einem fahlen Blau von unten. Routiniert prüft er die seine Dienstwaffe, sichert die schwere Pistole mit dem zehn Zoll langen Lauf und wuchtet sie über seine linke Schulter. Dort schiebt er die Waffe in die Tasche auf der Rückseite seines Mantels. Während er aus der Wohnung stürmt, streift er sich einen braunen Nylonstrumpf über den Kopf. Dieser gleicht nun einer großen Kugel mit blau beleuchteter Unterseite. Die Rundungen des schweren Horngestells seiner Brille zeichnen sich unter dem Strumpf ab. Sie geben der Kugel eine Unregelmäßigkeit und deuten darauf hin, dass es sich um ein Lebewesen mit Augen handelt. Ob Mensch oder riesiger Frosch ist beim ersten Anblick nicht eindeutig zu klären.

Wütend brüllend stürmt der Dacapo aus der Wohnung. Er meidet den langsamen Fahrstuhl, wählt das Treppenhaus und legt den Abstieg über sieben Etagen in wenigen Sekunden zurück. Bei jedem Treppenlauf hätte er einen der vorderen Plätze belegt oder diesen gar gewonnen. Krachend springt die Tür des Hauseinganges auf und mit weiten Sprüngen stürzt er sich in die Nacht. Die inzwischen vor dem Haus versammelte Menge registriert ihn mit Entsetzen.

Auf sie bewegt sich ein Wesen zu, dass einem Vampir, Außerirdischen oder einer Kreuzung aus beidem gleicht. Vom Unglückshaus ausgespien, hetzt dieses Etwas direkt auf sie zu. Den nahezu konturlosen, runden und blau glühenden Kopf vorgestreckt, schwebt es über den Boden. Die langen, schwarzen Flügel wehen hinter ihm her und schlagen klatschend aneinander. Mit einem heiseren Schrei treibt es sie auseinander und möchte sich einen Weg durch ihre Mitte bahnen. Es strebt auf die Autos zu, die in wenigen Metern Entfernung geparkt sind. Ja, Außerirdische werden durch Technik angezogen. Das Zeug wirkt auf sie, wie der Honig auf Bären. Die Menschen vor dem Haus haben sich um die graue Gestalt versammelt, die nach wie vor reglos am Boden liegt. In einem immer enger werdenden Kreis hatten sie sich dem Gestürzten genähert und stehen nun dicht gedrängt in drei Reihen um den rocket snatch herum. Der Dacapo strebt exakt durch die Mitte dieser Ansammlung seinem Wagen entgegen. Die Verfolgung eines flüchtigen Terroristen duldet keinen Aufschub. Er ist auf einer Mission der Macht - der Staatsmacht! Er muss den Verbrecher fangen, der seine Küche verwüstete. Als gewaltigem Geheimpolizisten bleibt ihm gar nichts weiter übrig, denn eine Störung der öffentlichen Ordnung ist für ihn intolerabel und muss geahndet werden. Die Mission hat ihn sehr deutlich und unüberhörbar mittels einer Explosion angesprochen und er hat sie angenommen. Außerdem muss er seinen tierischen Gefährten retten, dessen unmittelbare Nähe ihm sein Bewusstsein signalisiert. Das Hirn des mächtigen Superhelden ist also gut mit Missionsplanung, mentaler Ortung, Gedankenübertragung und Wut ausgelastet. Am Boden liegende, physische Dinge können augenblicklich nicht seine Aufmerksamkeit bekommen. Die Menge der Versammelten teilt sich hastig vor dem heraneilenden Dacapo und dieser stolpert folgerichtig über den rocket snatch. Die graue Gestalt bremst ihn abrupt in seiner Bewegung. Mit der stahlbewehrten Spitze des linken Schnürstiefels stößt er gegen den Metallkasten, auf dem der Einbrecher liegt. Der Aufprall äußert sich gut hörbar in einem dumpfen, trockenen ’Plock’ und reißt den Dacapo von den Beinen. Er fällt quer über den Verbrecher und rutscht noch zwei Meter weiter über den Beton des Weges.

”Au! Solln dat?”

Während er sich aufrichtet und den Schmutz der Straße vom langen Mantel klopft, schweigen die Beobachter eingeschüchtert und entsetzt.

”Wer nem Jeheimen ne Falle stellt, is widerständlich jegen de Staatsjewalt!”, schleudert er den Schweigenden entgegen und zwingt damit ihre Blicke schuldbewusst zu Boden.

Langsam wieder zu sich kommend, inspiziert der Dacapo den Grund seines gewaltsamen Sturzes. Das Gewebe des Nylonstrumpfes, das sich vor den Gläsern seiner Brille befindet, dämpft das schwache Licht der Laternen. Nicht jede von ihnen erhellt die Nacht, schließlich muss die große, bunte Stadt sparen. Sind doch einige Großprojekte aus dem Ruder gelaufen und die Einsparungen bei Bildung und Sicherheit kompensieren das Defizit schon lange nicht mehr. Nun wird auch bei der Infrastruktur abgezweigt, Prestigeobjekte sind wichtiger. Der Licht-Spar-Strumpf-Effekt gestattet dem Dacapo, der gewaltigen Geheimwaffe des Bundeskriminalamtes, nur langsam die Ursache der Unterbrechung seiner Mission zu erkennen. Bevor er die graue Gestalt wahrnimmt, hört er bereits ein freudiges Bellen. Seine Wahrnehmung hat ihn also nicht getäuscht, Miezi lebt und ist in der Nähe. Der kleine Hund sitzt auf dem Rücken des immer noch betäubt auf dem Boden liegenden rocket snatch. Hoch aufgerichtet ist ihm die Freude über das Erscheinen seines Fütterers anzusehen. Außerdem hat er den grauen Terroristen gestellt. Schon das allein ist ein hinreichender Grund für ein triumphierendes Bellen.

Freudig eilt der Dacapo auf die Pyramide aus Blechkasten, rocket snatch und Miezi zu und nimmt seinen kleinen, tierischen Begleiter in die Höhe. Zufrieden stopft er ihn in die rechte Außentasche seines langen Ledermantels. Mit einem kräftigen Stoß des rechten Stiefels rollt er den rocket snatch zur Seite - in seinem linken Fuß summt es immer noch von dem Zusammenstoß. Dumpf polternd quittiert der Blechkasten diese Behandlung. Lageveränderung und Geräusche lassen den Superschurkenlehrling langsam erwachen. Er liegt stöhnend neben dem ausgebrannten Raketentriebwerk und beginnt sich den Kopf zu massieren.

”Oh - wo bin ich - was ist geschehen?”

Augenblicklich reißt der Dacapo die Arme nach oben und hebelt gekonnt den brüllenden Wüstenadler aus der Tasche auf seinem Rücken über die Schulter. Er richtet die Pistole auf den Liegenden.

”Inne Hände vonne Staatsjewalt!”, antwortet er daraufhin mit einem zufriedenen Unterton.

Als die Umstehenden die schwere Waffe erblicken, treten sie unwillkürlich zurück und schweigen eingeschüchtert weiter. Niemand traut sich eine Bewegung zu machen oder sich zu äußern. Die blanke Pistole funkelt bedrohlich im schwachen Licht der Laternen. Ein Mann lässt sich sogar fallen und bleibt lang ausgestreckt liegen.

Beruhigend wendet sich der Dacapo an die Anwesenden: ”Biste keen Ganove, biste sicha. Wenn nich, klärt Kaliber ’Halbzoll’ allet.”

Niemand ist beruhigt, ganz im Gegenteil. Nicht einmal mehr ein Atmen ist zu vernehmen.

”Oh Gott, der ist echt”, der rocket snatch lässt deprimiert den Kopf auf den Boden sinken.

”Und jewaltich vonne Macht och - die is mit mich.”

”... mir ...”, wagt sich der rocket snatch leise und vorsichtig zu verbessern.

”Klappe! Nich nur jemenjefährlich und bekloppt, sondern och noch wahnsinnich, wa?”

Der Dacapo wedelt mit der schweren Waffe vor sich herum. Da niemand reagiert, winkt er intensiver. Offenbar möchte er die Umstehenden in seine Nähe holen. Weiterhin erfolgt keine Reaktion, nur erschrockene Blicke begegnen ihm.

”Na wirs bald! Herjekomm und jefesselt, aba zackich!”

”Ich?”, ein Mann aus der Menge wagt es zögernd und zaghaft, mit ausgestrecktem Finger auf sich selbst zu zeigen.

”Jo.”

Vorsichtig nähert sich der Angesprochene und nimmt einen Rest des Stoffbandes vom Boden, das zuvor auf dem Rücken der rocket snatch befestigt war. Es ist etwas weniger als einen Meter lang und an beiden Enden angesengt. Den Dacapo und die Waffe immer im Blick behaltend, bückt er sich und bindet dem maskierten Verbrecher die Hände auf dem Rücken.

”Na jeht doch!”, zufrieden wuchtet der Dacapo die schwere Waffe wieder in den Holster auf seinem Rücken.

”So, jetz wolln wa ma sehn, wer det is”, spricht es und zieht dabei ein Smartphone aus einer Innentasche seines Mantels.

Er bückt sich und zieht dem rocket snatch die graue Maske vom Kopf. Dieser versucht sein Gesicht nach unten zu drehen, damit er nicht erkannt werden kann. Der Geheimpolizist ist schneller und schiebt ihm die Spitze seines linken Schnürstiefels unter die Stirn. Das fixiert den Kopf und verhindert die Drehung. Nach einer intensiven Musterung schüttelt er den Kopf.

”Dacht eck ma doch: unbekannter Jengsternachwuchs. Muss de Technik ran.”

Mit dem Objektiv der kleinen Kamera zielt er auf das Gesicht des Gefangenen. Ein greller Blitz erhellt für den Bruchteil einer Sekunde die seltsame Szene. Kurz darauf beginnen die Server im Hauptquartier des Bundeskriminalamtes heftig zu arbeiten. Innerhalb weniger Sekunden vergleichen die Algorithmen der künstlichen Intelligenz, die in den Maschinen toben, Millionen von Porträtfotos mit der einen Aufnahme, welche die Fahndungsapp ihnen übermittelte. Aus dem Smartphone dringt das klickende, metallische Geräusch, das Handschellen beim Schließen hinterlassen. Es lässt den Dacapo zufrieden und ungesehen unter dem Nylonstrumpf lächeln, der immer noch über seinen Kopf gezogen ist. Alle Mühen des Tages, der Hunger, die Demütigungen und die Angst um seinen tierischen Freund sind plötzlich vergessen: Er hat hier und jetzt einen Fahndungserfolg vor sich! Die Identität des Verbrechers interessiert ihn gar nicht mehr, zu viele gibt es davon. Das Smartphone verschwindet in der Innentasche seines Mantels, ohne dass er auf dessen Bildschirm gesehen hätte. Gleichzeitig richtet er sich auf und winkt weitere von den Beobachtern heran, die immer noch reglos und verängstigt auf ihren Plätzen verharren.

”Ähm, ick mach euch jetze zu mene Jehilfen - zu Hilfsjeheimen.”

Die beiden Mutigen, die vorsichtig zu ihm kommen, sehen sich fragend an. Muss sie diese Ernennung beunruhigen? Bekommen sie jetzt Pistolengürtel und Sheriffstern ausgehändigt. Werden sie zwangsvereidigt und eventuell zu den brutalen und unmenschlichen Handlungen gezwungen, die sie bisher nur aus Filmen kennen?

”Ich bin Pazifist, ich nehme keine Waffe in die Hand”, protestiert einer von ihnen vorsichtshalber leise.

”Och det noch! Bleibt mia denn heut nischt erspaat?”, brummt der Dacapo in seinen Strumpf. Lauter fragt er nach: ”Trajen kannste aba, oda hastn Schein vonn Dokta?”

”Ja ... nein.”

”Na wattn nu?”

”Ich habe keinen Schein.”

”Na denn, fass zu.”

Abermals sehen sich die beiden Helfer an und ziehen unisono ihre Schultern nach oben. Diese fragende Geste macht den Dacapo ungehalten, scheinen beide doch nicht die hellsten Köpfe zu sein. Eine kurze Rede, als deutliche und scharfe Anweisung vorgetragen, erfüllt ihren Zweck.

”Den idiotischn Verbrecha anfassn! Ihn innet Haus trajen! Inne siebte Etasche ablechen und wieda verschwinden! Kapiat? Anne Arbeet, los, los!”

Die geheimen Hilfspolizisten treten an den rocket snatch heran und versuchen ihn anzunehmen. Mehr als eine Handbreit bekommen sie ihn nicht angehoben. Stöhnend lassen sie ihn fallen, was sich wieder in einem dumpfen Poltern äußert.

”Au - ich habe auch Rechte!”, beschwert sich der Gefesselte.

”Uff, ist der schwer.”

”Du da!”, brummt der Dacapo drohend, ”Klappe haltn. Vabrecha komm ins Kittchen”, und zu den Helfern gewandt befiehlt er: ”Und iha Schlappies strengt euch füan Staat ma an! Der fraacht ja och nich, oppa wat füa euch tun kann.”

Schon wieder sehen sich beide an und beginnen eine kurze Beratung, während dieser der Dacapo gereizt mit der Spitze des rechten Stiefels auf den Boden klopft. Er überlegt ernsthaft, seine Dienstwaffe einzusetzen. Dieser aufmunternde Gedankengang lenkt ihn kurzzeitig ab und sorgt dafür, dass er die beiden Helfer arbeiten lässt und nicht anbrüllt. Endlich läuft einer von ihnen zu einem der in der Nähe geparkten Autos. Bereits nach einer Minute ist er mit einem Abschleppseil wieder zurück.

”Hä?!”, ist der fragende Kommentar des Dacapo zu dieser Aktion.

Eine Antwort erübrigt sich. Während einer der Hilfspolizisten das Abschleppseil um die Füße des rocket snatch bindet, kippt der andere ihn in seine ursprüngliche Position. Die Blechkiste mit den Bremstriebwerken befindet sich nun wieder unter ihm. Anschließend ziehen sie das Paket in Richtung des Hauseinganges. Mit lautem Knirschen und Quietschen schabt der rostfreie Stahl des Behälters über den rauen Beton. Der Gefesselte beschwert sich irritiert brabbelnd über die rüde Behandlung. Niemand hört ihm mehr zu. Die anderen Anwesenden haben die Gunst des Augenblicks genutzt und sich schnell in verschiedene Richtungen verteilt. Vor dem Eingang zu dem zehngeschossigen Wohnblock sind nur noch die Akteure der Transportaktion zu sehen.

”Ah, zwee Inschenöre!”, freut sich der Dacapo und folgt ihnen sichtlich zufrieden.

Trotz seines Erfolges mischt sich eine leichte Enttäuschung in die Zufriedenheit des Superhelden des BKA. Wieder hat er keinen Schuss aus seiner Dienstwaffe abgeben können! Niemand kann alles haben - oder vielleicht doch? Noch ist das Tag nicht an seinem Ende angelangt und vielleicht versucht der graue Terrorist zu flüchten. Ein Gedanke, der die Stimmung des Dacapo weiter aufhellt.