Der zündende Funke

Politik wird nur gut,
wenn man sie nicht tut.

Thomas Tallorini - Aus seiner Antrittsrede

Die Wolke aus heißem Gas breitete sich rasend schnell aus. An ihrer Außenseite leckten kleine, orange-gelbe Protuberanzen nach den Möbeln. Bei den alten, schweren und dunkelbraunen Fenstervorhängen hatten sie Erfolg. Gleich großen Amöben wanderten Brandlöcher gestaltwandelnd über die Verdunklungen hinweg. Auf ihrem Weg in die Freiheit nahm die leuchtende Gaswolke keine Rücksicht auf Hindernisse. Der Weg aus der Wohnung, der für gewöhnlich durch Menschen gewählt wurde, war ihr offensichtlich egal. Sie öffnete regelwidrig Fenster durch Entfernung der Gläser und raste den Abluftkanal zwischen Bad und Küche in die Höhe.

Das verwinkelte Innere der des alten Hauses war Attilas Rettung. Es gab ihm die minimale Chance, schneller als das Gas zu sein. Das dünne Holz der Wohnungstür splitterte krachend, als er durch diese hindurchsprang. Er nutzte jede Millisekunde seiner Chance und hielt sich nicht mit Türklinken, Schlössern und Schlüsseln auf. Auf dem Boden des geräumigen Treppenhauses angekommen, rutschte er sofort rechts neben die Tür. Hinter der schützenden Brandmauer, die seine Wohnung und das Treppenhaus separierte, fühlte er sich hinreichend sicher. Das gab ihm die einmalige Gelegenheit, die hellgelb leuchtende Zunge heißen Gases zu beobachten, die sich direkt hinter ihm brüllend ihren Weg in das Treppenhaus bahnte. Orange-gelbe Blasen brennenden Gases zerplatzen und wurden umgehend zu schwarzen Flocken schmierigen Rußes. Aus der Enge der kleinen Wohnung befreit, verlor die Gaswolke sofort ihre bedrohliche Kraft und wandelte sich in einen heißen Wind. Dieser hatte nicht einmal mehr die Kraft, Attilas feuchtes Haar zu trocknen. 'Mist, ein brauchbares Handtuch werde ich nach dem Chaos nicht mehr finden.' war sein zweiter Gedanke. Mit dem ersten würdigte er die Schönheit der verblassten Gasblase und das glitzernde Flirten der silbrigen Geschosse, die gemeinsam mit dem Plasma seine Wohnung verließen. Das Klack, Klack, Klack mit dem die fliegenden Messer und Gabeln in die Tür der gegenüberliegenden Wohnung einschlugen, war in dem Getöse und Pfeifen der entfesselten Gasexplosion deutlich zu hören. 'Welch schönes, zufälliges Muster', dachte Attila, als er sein im Holz der Tür steckendes Besteck betrachtete. All das lag in einem wahren Sturm schwarzer Rußflocken: schwarzer Schnee. Dieser färbte den weißen Bademantel, den trug, in ein streifiges Grau. Er hatte ihn auf seiner Flucht aus Berlin in einem Landhotel 'erbeutet' - eines der wenigen Kleidungsstücke, dass er hier in Storkow besaß.

Attilas war grenzenlos fasziniert und von dem Schauspiel abgelenkt. So bemerkte er nicht, wie mit einem Mal sein Nachbar in der Tür stand. Der betrachtete entsetzt die Gabelskulptur auf dieser.

"Hey, soll'n das? Wer räumt'n das jetzt auf? Und der ganze fettige Mist hier! So'ne Schweinerei!"

"Ich dachte schon, sie erkundigen sich nie, wie's mir geht. Aber keine Sorge, bin fit für den nächsten Feldzug. Ich steig' gleich wieder auf mein Pferd."

"Hääh?"

"Ach so ja, das hier ist nur ein Anschlag der transnistrischen Mafia. Also kein Grund zur Sorge. Ich würde aber aus reiner Vorsicht trotzdem in jeden Schrank sehen. Diese Terroristen verstecken sich meist in Kleider- oder Besenschränken. Auch Vorratskammern sind gern genommen..."

Nun hatte Attila ein neues Schauspiel vor sich. Der Blick des Nachbarn wechselte von Wut über Entsetzen zu Furcht. Der massige Körper fiel plötzlich in sich zusammen und zeigte erste, deutliche Anzeichen einer Panik - Schweiß trat in großen Tropfen auf seine Stirn. Er mischte sich mit dem schwarzen Ruß, dessen Flocken immer noch durch die Luft wirbelten. Dunkle Rinnsale trafen sich in der tiefen Stirnfalte über der Nasenwurzel. Diese zerteilte den Fluss und schwarze Tränen liefen über die Wangen. Sie trafen sich wieder am zuckenden Kinn.

"Wirklich? Wo?"

Die dunklen Pupillen in den aufgerissenen, kleinen Augen kreisten wild. Ab und zu war nur noch das Weiß der Augäpfel zu erkennen. Die hastigen Blicke tasteten jeden Winkel des Treppenhauses auf der Suche nach Mafia-Terroristen ab.

"Transnistrien ja? Die soll'n doch knallhart sein, habe ich gehört." Kommt es leise aus Richtung der Nachbartür. Bevor Attila antworten kann, wird die Tür hastig zugezogen und es ist nur noch das Schließen von drei Schlössern und einer großen Verriegelung zu hören.

Mafia aus Transnistrien - das war überhaupt nicht so abwegig, wie Attila dachte. Attila hatte seinen Nachbarn mit einem Scherz beruhigen wollen und ungewollt die eine 'wahre Behauptung' aufgestellt. Леонид Ложкой hatte in den zwei vergangenen Jahrzehnten viel Geld mit dem Verkauf vergoldeter Lenin-Büsten und bronzener Statuen verdient. Nach dem Ende der Sowjetunion wollte niemand mehr diese Kunstwerke sehen. Nur in Transnistrien, der letzten Heimstatt des Sowjetsozialismus, standen sie noch einige Zeit. Leonid tat es um die Zeichen der großen Vergangenheit leid. Er begann sie in Tiraspol, seiner Heimatstadt, zu sammeln. Und die ehemalige Sowjetunion war wirklich riesig - so gab es wahre Unmengen an Symbolen der Arbeiter- und Soldatenmacht. Nach einigen Jahren wilden, ziellosen Sammelns waren mehrere ungenutzte Fabrikhallen gefüllt. Als der Platz und das Geld knapp wurden, lag der Verkauf der mehrfach vorhandenen Stücke nahe. In der ganzen Welt fanden sich Liebhaber für die Stücke und die Versteigerungen brachten viele Millionen Dollar ein. Jede Aktivität hat ihre eigene Zeit - so auch der Verkauf von Sowjet-Devotionalien. Auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten für die verdienten Millionen stieß Leonid auf Politik-Investments in Deutschland. Eigentlich war das wie eine Wette an der Börse gedacht: Wenn es funktionierte, dann zahlte sich der Politiker aus, in den investiert wurde. Lobbyismus ist schließlich eine in Deutschland zugelassene Form der Bestechung, Meinungsmanipulation und Privatisierung von Steuermitteln. Wenn es nicht funktionierte, dann war das Geld futsch - genau wie bei einer Wette. Es gab da nur einen Haken: Leonid war nachtragend und konnte "futsch" gar nicht akzeptieren. Auch Attila hatte, über mehrere Mittelsmänner, von ihm Geld für seinen Wahlkampf bekommen. Und Attilas politische Karriere und damit auch Lenoids Geld waren jetzt "komplett futsch". Seit zwei Jahren hatte Leonid spezielle Auftragnehmer für die Lösung von Problemen mit Geschäftspartnern. Nach einigem Suchen war er in Kiew fündig geworden. Diese beschäftigten sich hauptberuflich mit erzieherischen Maßnahmen zur Beförderung von Geschäftsabläufen durch Simulation von Überlastsituationen an Computer-Systemen - natürlich aus rein wissenschaftlichen Beweggründen. Um seinem Wunsch der Rückzahlung bei Attila Nachdruck zu verleihen, wurden auch in diesem Fall die Herren aus Kiew beauftragt. Die "Wissenschaftler" verwirrte der Auftrag leicht. Bisher hatten sie aus einem Kellerbüro heraus ihr Botnet arbeiten lassen. Das konnte viel - jedoch keine Explosionen auslösen. 'Umerziehung durch Gasverpuffung' war eine ganz neue Methode in ihrem Repertoire pädagogischer Tätigkeiten. Als Wissenschaftler und Ingenieure nahmen sie auch diese Herausforderung an. Und als solche gaben sie sich natürlich nur mit komplexen Lösungen zufrieden.

Attila war über sein Smartphone schnell in seinem Storkower Exil lokalisiert und die Post brachte bald zwei Pakete zu ihm. Das große Paket war für einen angeblichen Nachbarn, der Attilas Wohnung als c/o-Zustellanweisung angegeben hatte. Attila war ein aufmerksamer, netter Mensch und kümmerte sich um das Paket. Bis der wirkliche Empfänger sich meldete, parkte er es in der Abstellkammer - gleich neben der Küche. Das kleine Päckchen war direkt an ihn adressiert. Den klobigen Holzlöffel aus ihm hat er vor sich auf den Küchentisch gelegt und diesen über viele Minuten hinweg intensiv-irritiert betrachtet. Attila konnte nicht wissen, dass ein Holzlöffel die übliche Drohung von 'Leonid Löffelchen' an seine Schuldner war. Andere Organisationen versandten Seidentücher oder goldene Patronen. Leonid benutzte Holzlöffel als Sinnbild für die Aufforderung: 'Zahle oder gibt den Löffel ab'. Attila hielt das Kunstwerk für ein erstes Geschenk seiner ehemaligen Parteifreunde. Nach dem Wahlkampfdesaster und seiner Flucht aus Berlin hatte sich bisher niemand bei ihm gemeldet. In der möblierten Wohnung, die er in Storkow bezogen hatte, gehörte ihm nichts. All sein Eigentum hatte er in Berlin-Marzahn zurücklassen müssen. Jetzt besaß er wieder etwas Eigenes und zudem noch Handgearbeitetes. Sein persönlicher Holzlöffel kam ihm sehr grob geschnitzt und zu schwer für Holz vor - er schob es auf die ungeübte Schnitzhand des anonymen Schenkers und Künstlers. Am Ende der Betrachtungen beschloss er, sich gerührt zu fühlen und legte den Holzlöffel in den Besteckkasten. Dort lag er nun gemeinsam mit den anderen Löffeln, die sich bereits vorher in der Wohnung befunden hatten. Attila konnte nicht wissen, dass das höhere Gewicht durch die Batterien und die Elektronik zustande kam. Diese sorgten auch für das klobige Aussehen des Stiels. In dem musste schließlich die elektronischen Eingeweide Platz finden. Im großen Paket war eine Gasflasche untergebracht - natürlich auch mit Batterie und Elektronik. Die Kiewer Wissenschaftler gaben sich nun einmal nur mit komplexen Lösungen zufrieden. In dem handgeschnitzten Holzlöffel befand sich der Zünder und in dem großen Paket der Gasspeicher. Beide Vorrichtungen wurden durch Mikrocontroller gesteuert und waren über eine bluetooth-Verbindung gekoppelt. Leonids Löffel hatte dem Gasspeicher befohlen, sich zu öffnen. Dieser hatte innerhalb einer halben Stunde das explosive Gas-Luft-Gemisch in Attilas Wohnung hergestellt. Nach Ablauf dieser Zeit hatte der Löffel die Verpuffung ausgelöst.

Leider gab es während des ausgeklügelten Ablaufes ein System- und Prozessteilversagen, das den angestrebten, pädagogischen Effekt zunichtemachte. In dem großen Paket mit der Gasflasche befand sich auch ein Schreiben, in dem Leonid Loschkoi seine 'Forderung an Herrn Attila Schlottermüller' zum Ausdruck brachte. Zur Sicherheit war dieses Schriftstück in 32-facher Ausfertigung rund um den Gasspeicher verteilt worden. Die Blätter sollten von der Explosion so im Umfeld verteilt werden, dass der Empfänger mindestens einen davon zu Gesicht bekommt. Die Wissenschaftler generierten das erste Problem: Der Tank für das Gas war viel zu groß dimensioniert - ein Viertel des Inhaltes wäre dem angestrebten Ziel angemessen gewesen. So kam es nicht zu einer kleinen, harmlosen Verpuffung, sondern zu einer ausgewachsenen Gasexplosion. Attila generierte das zweite Problem: Er stellte das Paket in die Abstellkammer und schloss deren Tür. Durch die Summe beider Probleme verließen die Schreiben die Abstellkammer gar nicht erst. Sie verbrannten alle bereits in dieser, während der Explosion. Attila blieben damit Absender und erzieherische Zweck der gesamten Aktion komplett verborgen.

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Der Donner und das Fauchen der sich ausdehnenden Plasmawolke verklangen nach einigen Minuten in seinen Ohren. Attila richtete sich langsam auf und blickte vorsichtig in die dunkle, rußige Öffnung zu seiner Wohnung. Von dem Türblatt war nicht viel übrig geblieben. Sein Sprung durch diese hindurch und der Druck der ihm nachfolgenden Explosion hatten ganze Arbeit geleistet. Überall waren kleine Flammenherde zu sehen, die kümmerlich in dunklem Rot glommen. Der verbliebene Rest an Sauerstoff machte nicht nur das Atmen schwer, sondern behinderte auch das Feuer beim Verschlingen der Einrichtungsgegenstände. Natürlich würde sich der Brand nicht lange so zaghaft verhalten. Schließlich fehlte das Glas in allen Fenstern und frische Luft strömte in die Räume, um den Vorrat an Sauerstoff wieder aufzubauen. Als das erste Martinshorn zu hören war, schleppte sich Attila im Treppenhaus nach unten. Vor dem Haus setzte er sich auf eine Bank und sah der Feuerwehr bei ihren Bemühungen zu. Langsam kam sein Gehirn wieder in Schwung. 'Was ist da so plötzlich explodiert?', 'War das ein alltägliches Infrastrukturversagen?', 'Hatte einer seiner Gläubiger einen Anschlag auf ihn verübt?' - seine Gedanken kamen lange nicht zur Ruhe. Unterdessen bemühte sich die Feuerwehr, die letzten Feuernester zu vernichten. In den schwarzen Rauch der brennenden Plastikgegenstände mischte sich der graue Dampf heißen Löschwassers. Apokalyptischer Nebel hüllte die Fassade des alten Hauses ein und erfasste auch Attilas Gedankengänge. Nach vielen Irrungen versteifte sich sein Hirn auf die Ansicht, dass es sich bei dem gerade Erlebten um ein verspätetes Jahr-2012-Ereignis handelte und die Majas einige Rundungsfehler in ihrer Berechnung der Apokalypse hatten. Die dunkle Wolke zerfaserte sich über den Häusern. In der Höhe trieb sie der leichte Luftzug auseinander und die warme Luft nahm den Dampf auf. Attila träumte den Wolkenfiguren hinterher, die sich dabei bildeten. Vor einigen Sekunden war ein Hase entstanden, der jetzt langsam zum Kaninchen mutierte: Seine Ohren wurden immer kürzer. Am Ende blieb ein Klumpen von der Figur übrig, der einer Kröte ähnelte. 'Ja, so endet das immer.' dachte Attila.

Aus der träge zwischen den Häusern hängenden, grau-schwarzen Dampfwolke, traten zwei Feuerwehrleute heraus. Sie unterhielten sich angeregt und waren so in das Gespräch vertieft, dass sie Attila auf seiner Bank nicht bemerkten. Dessen Ohren nahmen inzwischen wieder die normalen Umgebungsgeräusche wahr und er konnte einen Teil der Unterhaltung aufschnappen.

Der auf dem Bordstein gehende Brandbekämpfer wischte sich die verschmierten Hände an seiner dunkelblauen Hose ab und sprach leise und dabei etwas zischend in Richtung des auf der Straße laufenden: "... glaubst es nicht, was ich gerade gefunden habe!"

"Nu' sag schon: Was ist los, warum willst' mir das nicht vor den anderen sagen?"

"Eh', lass uns ins Fass gehen. Da sind wir jetzt unter uns." war die leise Antwort.

Attila bezog das Gespräch und die Geheimnistuerei auf den Brand in seiner Wohnung. Was sollte hier sonst das Interesse der Feuerwehrleute geweckt haben? Wahrscheinlich waren sie auf den Verursacher der mittäglichen Ruhestörung gestoßen. Er folgte vorsichtig den beiden Uniformierten auf ihrem Weg in das "Zum Fass". Dabei war er um Unauffälligkeit bemüht, so gut das in einem weiß-grau-schwarzen Bademantel in der Mittagszeit auf der Straße ging.