Ende gut, alles gut?

Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.

Kurt Tucholsky

In dem italienischen Restaurant hängt zwischen dem trüben, gelblichen Licht der Deckenleuchten ein schwerer Duft von Knoblauch, Frühlingsblumen, Parmesan und gebratenem Fisch. Letzterer versucht aufdringlich, die anderen Gerüche zu überdecken. Als der Dacapo und das grünäugiges Wunder durch die Eingangstür des Gastraumes treten, möchten sie sofort dem Überdruck des heftigen Odors nachgeben und sich von ihm wieder auf den Gehweg spülen lassen. Leider haben sie kein Glück, denn ein junger Kellner fängt sie direkt hinter der Tür ab und schiebt sie immer tiefer in den großen, schlecht erleuchteten Raum, immer weiter der Quelle des schrecklichen Geruches entgegen. Ihr Fänger ist ein in der Selektion von Gästen noch unerfahrener Lehrling. Am Tresen angekommen, nimmt sie ein älteres Mitglied der Serviergilde in Empfang und mustert die neuen Gäste intensiv mehrfach von oben bis unten. Im Ergebnis dieser Analyse verpasst er seinem jüngeren Kollegen eine heftige Kopfnuss und schickt ihn in die Küche.

”Hallo?”, ob dieser schockierenden Behandlung möchte das grünäugige Wunder eingreifen, wird aber durch eine noch seltsamere Frage des zweiten Kellners davon abgehalten.

”Können sie es sich überhaupt leisten, in diesem Restaurant zu speisen?”

Der dreiste Spruch des Kellners verschlägt ihr die Sprache und verhindert eine sofortige, heftige Explosion. Dieses Mal ist es am Dacapo, das Geschehen amüsiert zu beobachten. Als ’anonyma Zivila’ drückt jeder kleine Flecken seiner äußeren Fassade zu 100% Understatement aus und er ist an solch eine Behandlung nur zu gut gewöhnt. Obwohl sein Interesse an dem weiteren Verlauf der Eskalation sehr groß ist und er gern sehen würde, wie das grünäugige Wunder den frechen Kerl in seine Schranken weist, mischt er sich beschwichtigend ein. Er greift in eine Innentasche seines Ledermantels und hält dann ruhig lächelnd den Dienstausweis vor die Nase des Kellners. Unwillkürlich verfällt er in den Jargon seiner Tarnidentität.

”Na, kleene Kontrolle jefällich? Ich gloob, die von det Jesundheitsamt sind bei Übastunden imma schlecht jelaunt...”

Der Kellner nimmt nur das Siegel auf dem Ausweis wahr und erbleicht augenblicklich. Unwillkürlich macht er einen Schritt zurück und drückt sich mit dem Rücken an den Tresen. Der Dacapo fächelt sich mit dem Ausweis etwas Luft zu, atmet tief ein und schüttelt sich.

”Uh, der Fisch war wohl ooch schon länger doot. Gabs im Sonderanjebot, wa?”, ergänzt er nebenläufig.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, weist der Kellner auf einen einsamen kleinen Tisch für zwei Personen. Der steht weit entfernt von den restlichen Tischen ganz hinten im dunkelsten Teil des Gastraumes. Den beiden Besuchern ist es recht, so haben sie ihre Ruhe und können sich ungestört unterhalten. Unaufgefordert stellt der Kellner ihnen eine große Flasche Rotwein auf den Tisch. Beim Einschänken presst er sich verhalten ein trockenes und leises ”Vom Haus” ab. Während er sich zurückzieht, blickt das grünäugige Wunder ihm vorsichtig hinterher und bricht in ein glucksendes, unterdrücktes Lachen aus.

”Was hast du denn mit DEM gemacht? Und dein Dialekt ... einfach köstlich!”

”Nun, als ’anonyma Zivila’ muss ich in jeder Situation authentisch wirken und meine wahre Identität glaubhaft verbergen.”

”Ach so?”, fragt sie mit einem zweifelnden Unterton, da sie nicht daran glaubt, dass er auch nur irgend etwas verbergen kann.

Sie sieht ihn prüfend an und neigt dabei den Kopf zur Seite. Geste und Anblick faszinieren den Dacapo abermals so sehr, dass er das Hier und Jetzt vergisst. Mit offenem Mund sieht er sie an und antwortet nicht. Nach mehreren ereignislosen Sekunden des Wartens beginnt sie mit beiden Händen vor seinem Gesicht zu wedeln: Nichts, es folgt keine Reaktion.

”Hallo? Bist du noch anwesend?”

Erst nach einigen weiteren Sekunden findet der Dacapo wieder in die Wirklichkeit zurück.

”Ja ...”, schwärmt er nachdenklich.

”Willkommen zurück!”, freut sie sich und fügt hinzu: ”Lass uns zuerst etwas bestellen und dann erzählst du mir, was du so machst.”

”Na dann los.”

Nach einigem Hin und Her bestellen sie bei dem sich immer noch einsilbig gebenden Kellner ein Menü mit drei Gängen rund um einen Kaninchenbraten. Zu ihrer eigenen Sicherheit nehmen sie Abstand von dem übertrieben beworbenen Fisch, dessen intensiver Geruch nach wie vor das gesamte Restaurant füllt. Möchten sie doch den nächsten Tag bei vollem Bewusstsein und bester Gesundheit erleben. Auch hat der Dacapo seine Dienstwaffe zu Hause gelassen. Ohne die Magnum Desert Eagle kann er natürlich weder Koch noch Küche standesgemäß zur Rechenschaft ziehen, wenn dort ein Fehler bei der Zubereitung von Speisen unterlaufen sollte. Außerdem sagt ihm seine Intuition, dass dem grünäugigen Wunder eine Intervention auf seine sonst übliche Art nicht gefallen würde.

****

Das grünäugige Wunder muss nicht lange bitten, um einige Berichte aus dem Arbeitsleben des Dacapo zu erhalten. Sind die Verbrecher erst gefasst, ist nichts mehr geheim. Schließlich erleben Mal für Mal viele Menschen seine Jagden mit und sorgen für Berichte in den Medien. Bei jeder der haarsträubenden Erzählungen über die tägliche Verbrechensbekämpfung schüttelt sie ungläubig den Kopf. Die verzögerte Bewegung der rotbraunen Haarpracht und das lustige Funkeln der Augen begeistern den Dacapo immer wieder und er schließt sofort den Bericht über ein weiteres Ereignis an, um die gleiche Reaktion nochmals zu provozieren. Schließlich kommt er auf den vergangenen Tag zu sprechen. Obwohl er sich in diesem speziellen Fall nur für einige seiner Handlungen rühmen kann, möchte er ihr den vollständigen Verlauf nicht vorenthalten. Er versteht das als einen Teil der Entschuldigung für sein Verhalten bei ihr. Mitten in der Erzählung wird er laut lachend unterbrochen.

"Und du hast den Brotbackautomaten gesprengt?"

"Äh - ja - warum lachst du?", fragt er vorsichtig und verunsichert.

"Weil mir das auch geschehen ist...", platzt sie heraus.

Weiter kommt sie nicht, da sie aufgrund der vielen Gluckser, die sich in ihr intensives Lachen mischen, nicht sprechen kann. Der Dacapo beschließt, von dem morgendlichen Vorfall auf dem Markt nichts zu erzählen, hat er sich doch ein zweites Mal vor der harmlosen Technik gefürchtet. Ihn rettet ihr schweigsamer Kellner, als dieser mit der Vorspeise erscheint. Der Dacapo ist froh, damit den Fokus auf das Essen lenken zu können.

****

Zum gleichen Zeitpunkt beginnt sich eine wesentlich größere Ablenkung vor der Eingangstür des italienischen Restaurants zu entwickeln, die weniger als eine Minute benötigt, um in dessen Inneren alle Anwesenden in ihren Bann zu ziehen. Ein Licht entsteht plötzlich, nicht einmal zwei Schritte neben der Tür schwebt ein warmes, helles Leuchten über dem Gehweg. Im Schatten vor den Fenstern hellt sich die Luft etwa einen Meter über dem Boden immer mehr auf. Kurz darauf erscheint eine ovale Leuchtblase, begleitet von einem deutlich hörbaren Knistern und Zischen. Ein auf der Straße liegendes Verpackungspapier, das tags zuvor noch einen Müsliriegel einhüllte, wird auf magische Art und Weise vom Boden gehoben. Es schwebt auf das etwa mannshohe, auf seiner Spitze stehende, riesiges Ei aus Licht und Luft zu und heftet sich an dessen Seite. Das plötzliche Erscheinen eines leuchtenden Nichts aus dem Nichts hält die Passanten in einem sicher geglaubten Abstand davon fest. Niemand kann seinen Blick von der unnatürlichen Erscheinung lösen.

Alle Gäste des Restaurants haben sich ebenfalls hinter den Fenstern versammelt, drücken mit Händen und Nasen gegen diese und beobachten das Geschehen aufgeregt schweigend. Auch der Dacapo und das grünäugige Wunder stehen dort. Nicht die kleinste Bewegung ist in den Beobachtern verblieben und alle starren wortlos auf das Gebilde. Das einheitliche, undifferenzierte Leuchten der Erscheinung ändert sich. Eine Leuchtband in Form einer Spirale entsteht am Scheitelpunkt des Eies. Es windet sich wie eine Schlange von oben nach unten darum herum und beginnt sich zu drehen. Die Rotationen wird immer schneller, bis das Licht mit einem leisen Knistern plötzlich erlischt und vollständig verschwindet. Dort, wo zuvor nur ein Leuchten zu sehen war, steht nun ein in einen tiefschwarzen Overall gekleideter Mann. Eine spiegelnde Brille verdeckt seine Augen und farbig leuchtende Anzeigen scheinen hinter den Gläsern zu flimmern.

”Nicht der schon wieder, nicht jetzt!”, stöhnt der Dacapo leise.

”Du kennst den Mann?”, flüstert seine Begleitung ihm ins Ohr: ”Was, beziehungsweise WER ist denn das jetzt?”

”Der timesurfer.”

”Der WAS?”, diesmal ist es ein lauter Ausruf, der alle anderen Gäste des Restaurants dazu bringt, sich zu ihnen umzudrehen.

”Ein Zeitreisender, der mir manchmal über den Weg läuft.”, ist die leise und beiläufig hingeworfene Antwort.

Der Dacapo ist durch das Erscheinen des timesurfers abgelenkt. Angestrengt versucht er einen Grund für dessen Auftauchen zu finden. Warum stört der gerade jetzt ihr gemeinsames Abendessen? So sehr er sich auch anstrengt, alle seine Gedanken laufen ins Leere, offensichtlich hat das nichts mit ihm zu tun. Beruhigt und deutlich hörbar atmet er aus und wendet sich zu seiner Begleitung um. Die steht seltsam starr neben ihm und mustert ihn besorgt.

”Du glaubst doch nicht etwa an diesen Unfug? In der Zeit kann man nicht ’reisen’. Das ist physikalischer Unsinn.”, nach einer kleinen Pause fügt sie hinzu: ”Also kann es auch keine Zeitreisenden geben.”

”Doch, gibt es. Du siehst ihn ja. Er ist übrigens nicht der einzige, der durch die Zeit springt.”

Der Ernst, mit dem er das ausspricht, erschüttert sie. Noch nie hat sie einen Menschen getroffen, der wirklich von solchen Phantastereien überzeugt ist.

”Äh - wie?”

”Ja, ich habe schon mehrere von der Sorte getroffen.”, sagt der Dacapo traurig: ”Die sind arm dran, alle mehr oder weniger ohne ein Zuhause.”

Eine Antwort oder weitere Frage bleibt aus. Sie steht neben ihm und sieht ihn weiterhin starr und mit offenem Mund an. Um die Situation zu retten, fasst er sie bei der Hand und zieht sie sanft in Richtung ihres Tisches.

”Komm, unser Essen wird kalt und alt. Wir wollen es doch nicht verderben lassen.”

****

Leider wird es am Tisch nicht besser. Das grünäugige Wunder wirkt nach wie vor verstört, nachdenklich und als sie beginnen die Antipasti der Vorspeise zu essen, kommt doch wirklich der timesurfer in das Restaurant gestürmt. Ohne sich auch nur eine Sekunde umzusehen, geht er geradewegs auf ihren Tisch zu. Der Dacapo ahnt, dass der Besuch des Zeitreisenden wider Erwarten doch ihm gilt. Er versteht nur nicht, wie dieser ihn finden konnte. Hat der etwas sein BKA-Handy gehackt oder es mit einer Überwachungs-App verseucht? Der Dacapo traut dem ungebetenen Besucher alles zu. Als dieser den Tisch erreicht, nickt er ihm nur leicht zu und isst weiter. Er versucht ihn zu ignorieren. Das grünäugige Wunder starrt ihn dagegen fassungslos an. Der timesurfer lässt sich jedoch nicht irritieren. Er zieht einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzt sich mit an ihren Tisch. Sein Overall ist überall mit unergründlich schwarzen Keramikplatten besetzt, die jeglichen auch noch so kleinen Lichtstrahl verschlucken. Während er sich setzt, stoßen sie leise klackernd aneinander. An den Handgelenken endet der Overall in breiten, blanken Messingmanschetten. Auf ihnen blinken wie hinter den Gläsern der Brille bunte Leuchtanzeigen. Deutlich sind die Zahlenkolonnen und sich abwechselnden Diagramme zu sehen, die über die Displays laufen.

”Wie hast du mich eigentlich gefunden? Kannst du mein Handy orten?”, fragt der Dacapo unvermittelt und unterbricht damit die Stille am Tisch.

”Guten Abend”, grüßt er an das grünäugige Wunder gewandt und in Richtung des Dacapo erklärt er: ”Quatsch! So ein altes Zeug benötige ich dafür nicht. Mir reicht deine Biosignatur. Damit kann ich dich überall auf dem Planeten und zu jeder Zeit finden.”

”Bio-Was?”, der Dacapo hat diesen Begriff nie zuvor gehört.

Hier hält das grünäugige Wunder es nicht mehr aus: ”Sind sie einer von diesen Star-Trek-Fan-Spinnern die in einer Parallelwelt leben? Das ist doch alles grober Unfug!”

”Warum sollte ich?”

”Ja weil ... weil ... weil es Zeitreisen nicht gibt, nicht geben kann PUNKT. Weil das physikalisch unmöglich ist.”

”Richtig, in eurer Physik ist das unmöglich.”, stimmt er ihr ruhig zu und fügt lächelnd hinzu: ”Die gilt aber nur noch einige Jahre. Neue Erkenntnisse, neues Glück.”

”Nein, das ist Unfug. Ich studiere Physik im letzten Master-Semester, ein wenig Ahnung denke ich von Raum und Zeit zu haben. Das hier widerspricht allem, was ich gelernt habe.”

”Oh”, der Dacapo blickt erstaunt von seinen Antipasti auf.

Der mysteriöse Gast an ihrem Tisch scheint von seiner seltsamen Deutung der Welt zutiefst überzeugt zu sein. Sein Lächeln unterstreicht dies und nutzt dafür jeden Muskel seines Gesichts. Sie gibt resigniert auf. Wie um sie zu trösten, legt der timesurfer seinen linken Arm auf den Tisch, direkt zwischen den Dacapo und die Platte mit den Antipasti, gerade als dieser wieder danach greifen möchte, um sich ein weiteres Teilchen der Vorspeise vom großen Teller in der Mitte des Tisches zu picken. Als über der glänzenden Ärmelmanschette ein kompliziertes dreidimensionales Schema erscheint, zieht er erschrocken und enttäuscht seine Hand wieder zurück, ohne eines der Häppchen bekommen zu haben. Bei der Darstellung handelt es sich offensichtlich um ein Hologramm. Anders als in gängigen science fiction Filmen ist es jedoch nicht blass und flimmert und flackert auch nicht. So wie es da schwebt, lässt es sich nicht von den anderen Gegenständen auf dem Tisch unterscheiden. Der timesurfer fasst mit der anderen Hand die leuchtende Figur an einer Ecke an, dreht und vergrößert sie.

”Das ist die letzte Darstellung über das Verhältnis zwischen Raum und Zeit, die mir bekannt ist ... entsteht etwas 250 Jahre von jetzt aus ... und ist garantiert noch nicht korrekt. Irgend etwas Neues wird immer gefunden.”

Das grünäugige Wunder sitzt nach vorn gebeugt am Tisch und starrt mit offenem Mund auf die Figur, bis diese langsam in sich zusammenfällt.

”Wahnsinn! Ich glaube es nicht!”

Ob sie damit die holografische Darstellung oder die Möglichkeit von Zeitreisen meint, bleibt den beiden Männern verschlossen. Ihr Gesichtsausdruck macht jedoch deutlich, dass sie nun davon überzeugt ist, dass zumindest ein wenig Wahrheit in dem Ganzen steckt und der timesurfer nicht zu einhundert Prozent ein Spinner ist. Der Dacapo geht etwas unvoreingenommener an ihm unbekannte Dinge und Vorgänge heran, das bringen die Notwendigkeiten seines Berufes so mit sich. Nachdem er von der Harmlosigkeit der leuchtenden Figur überzeugt und diese verschwunden ist, traut er sich wieder an die Antipasti. Kauend wendet er sich dem timesurfer zu.

”Ok, nette Vorführung. Jetzt erzähle aber einmal: Warum bist du zu mir gekommen?”

”Ich benötige unbedingt deine Hilfe. Die Karnickel stellen ein Heer auf und bereiten sich auf eine Schlacht vor!”, fasst dieser kurz und unverständlich zusammen und wird dabei ernst.

”Kaninchen ... Heer ... Schlacht? Worüber redest du? Haben dich deine Zeithüpfer jetzt endlich doch verwirrt?”

Noch bevor der timesurfer antworten kann, wird der bestellte Hauptgang an den Tisch gebracht. Als er den Kaninchenbraten sieht, wird er blass und das letzte Lächeln verschwindet aus seinem Gesicht.

”Oh mein Gott! Wollt ihr etwa einen der letzten Verteidiger der Menschheit gegen die Tyrannei der Monstermöhre essen?”

Der Dacapo blickt das grünäugige Wunder an, erinnert sich an die gestrige Begegnung und kopiert ihre Geste, indem er eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger neben seiner rechten Schläfe kreisen lässt. Zusätzlich rollt er gleichzeitig mit den Augen. Offensichtlich ist der ungebetene Gast nun auch noch verrückt geworden, oder er hat einfach lange nichts gegessen. Seit gestern weiß er, was Hunger mit Menschen anstellen kann. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich der timesurfer gerade in einer ähnlichen Situation befindet. Bei dem Springen durch die Zeit kann man schon einmal die Übersicht über den Tagesablauf und die Rituale der Nahrungsaufnahme verlieren. Außerdem hat sich der Dacapo dieses Abendessen zu zweit ganz anders vorgestellt, eine dritte Person kommt darin einfach nicht vor. Der schweigsame Kellner passt da viel besser in sein Gedankengebäude, denn der zählt nicht. Deshalb drängt er den timesurfer zu einer Aussage über den Grund seines Erscheinens. Nachdem dieser sein Anliegen vorgebracht hat, wird er sofort wieder verschwinden, denn Zeit nimmt er sich nie, obwohl er sie beherrscht und sich soviel davon nehmen könnte, wie ihm beliebt. Soweit kennt der Dacapo ihn und da der Braten vor ihm steht, möchte er sich jetzt endlich dem Essen und einer anregenden Unterhaltung widmen, so wie er es geplant hat.

”Ja, natürlich, jetzt aber einmal im Ernst, warum bittest du mich nun um Hilfe?”

Da er sich plötzlich an die Tambourette erinnert, fügt er etwas ungehalten hinzu: ”UND: Hast du eigentlich die Tambourette gefunden und nach Hause gebracht?”

”Ähm, ja, nee - ist alles viel schlimmer!”, antwortet der timesurfer ausweichend.

Dieser ist nun seinerseits verwirrt, nimmt die Brille ab und sieht sich im Gastraum um. Er hätte erwartet, dass seine Gesprächspartner den Grund seines plötzlichen Erscheinens kennen und sich über die unerwartete Unterstützung freuen würden. Ihre offensichtliche Unbekümmertheit im Angesicht einer gewaltigen Bedrohung, welche die Existenz der gesamten Menschheit gefährdet, irritiert ihn. Erst jetzt fällt ihm auf, wie gut das Restaurant mit Besuchern gefüllt ist, die sich deutlich erkennbar mit dem streng riechenden Fisch vergnügen, welcher sie erst morgen in Bedrängnis bringen wird. Hier ist keine Gefahr zu spüren, kein bedrückendes Gefühl engt die Gedanken der Menschen auf ein einziges Thema, auf die drohende Katastrophe, ein. Dafür kann es seiner Erfahrung nach nur eine einzige Erklärung geben: Er ist zum falschen Zeitpunkt an diesem Ort. So entschließt er sich zu einer Gegenfrage, anstatt eine Antwort zu geben. Nein, dieses Vorgehen ist nicht höflich und auch nicht kameradschaftlich, er kann damit aber langwierige Erklärungen vermeiden und Zeit sparen. Schließlich ist die gesamte Situation nahe einem Super-GAU - nur wohl nicht jetzt und heute, sondern zu einer anderen Zeit.

”Oh! ... Welchen Tag haben wir heute eigentlich?”

”Elfter April, warum?”

”Ach, da habe ich mich doch wirklich in der Zeit vertan! Du kannst das ja noch gar nicht alles wissen. Ich komme dann Ende des Sommers noch einmal zu dir...”

Nach diesem Ausspruch steht der timesurfer abrupt auf, verabschiedet sich kurz und geht in Richtung des Tresens weiter in das rückwärtige Dunkel des Raumes hinein. Die beiden im Ungewissen Zurückgelassenen sehen sich fragend an und der Dacapo zieht die Schultern hoch.

Ihr ungebetener Gast verschwindet so, wie er erschien: Ohne erkennbaren Grund, ohne Erklärungen, eine Reihe von noch unerklärbareren Eindrücken und viele offene Fragen hinterlassend. Würde der Dacapo das nicht bereits kennen, hätte es ihn jetzt in eine starke Unruhe versetzt und in den Einsatzmodus wechseln lassen. Im Falle des timesurfers bleibt er jedoch ruhig, denn dieser wird wieder auftauchen, wenn ihm danach ist und er wirklich Hilfe benötigt.

Der timesurfer stellt sich hinter den Tresen, hebt die linke Hand zum Gruß und kurz darauf beginnt um ihn herum die Luft zu leuchten. Wie bereits bei seinem Erscheinen baut sich ein leuchtendes Gebilde in Form eines großen Eies auf. Es hüllt ihn vollständig ein und wenig später verbirgt es ihn vor den Blicken der Anwesenden. Die Luft ist von einem elektrischen Knistern erfüllt, Kassenzettel und Servietten erheben sich von der Tischplatte des Tresens und werden zu dem leuchtenden Etwas hingezogen. Zuletzt erscheint wieder die rotierende Spirale aus Licht und kurz darauf zieht sich die Leuchtwolke in einen kleinen Punkt zusammen, der dann unter einem deutlichen Zischen endgültig verlischt. Der timesurfer ist mit ihm verschwunden.

”Wow! Macht der das öfter?”, staunt das grünäugige Wunder.

”Ja, leider.”, beschwert sich der Dacapo.

Ihm ist die ganze Aufmerksamkeit unangenehm, schließlich ist er der 'anonyme Zivila'. Von den anderen Gäste des Restaurants haben das Schauspiel jedoch nur wenige mitbekommen. Die meisten können den Tresen von ihrem Tisch aus gar nicht sehen und bei dem Rest hatten viele bereits vom ersten Mal genug. Sie sind zum Essen hier und nicht um eine Zaubershow zu bestaunen.

”Das ist so - so - so - unerklärlich! Warum findet man darüber nirgendwo etwas, auch nicht die kleinste Information?”

”Na weil einfach alle felsenfest davon überzeugt sind, dass Zeitreisen nicht möglich sind.”

”Hmm, ja. Das erklärt es.”, stimmt ihm das grünäugige Wunder zu.

****

Sie sind wieder allein, sitzen schweigend vor ihrem ausgekühlten Kaninchenbraten und blicken sich fragend an. Nach einigen Minuten beendet das grünäugige Wunder die Stille.

”Bist du vielleicht Mitglied in so etwas wie einem ’Club der Superhelden’?”

”Nein, mir ’passiert’ so etwas nur immer wieder.”

Sie sieht ihn erstaunt an.

”Ja, fast täglich ... so ist Polizeiarbeit nun einmal in dieser Stadt.”, ergänzt er erklärend und lenkt das Gespräch schnell auf ein anderes Thema, das ihn sehr beschäftigt: ”Du studierst Physik? Ist ja interessant, da musst du mir unbedingt von erzählen.”